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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis
Autoren: Gisa Klönne
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Moment, in dem Manni die Worte ausgesprochen hat, wünscht er, er könne sie zurücknehmen, denn nun verwandelt sich die Verständnislosigkeit in Viktor Petermanns Gesicht in Windeseile in die Erkenntnis, dass sein letzter Verbündeter, sein bester Kumpel Ralle, ihn nicht nur hintergangen hat, sondern sogar versucht, ihm ein Verbrechen anzuhängen, das er gar nicht begangen hat.
    Viktors letzte Sicherheit zerbricht. In hohem Bogen schnickt er seine Zigarette weg, wendet sich um, zur Dachkante hin. Und Manni springt. Er weiß, dass er keine Chance hat, aber er springt. Er springt, wie er noch nie gesprungen ist, und der Schmerz explodiert in seinem Knie, er fliegt durch die Luft, auf den Jungen zu, der ebenfalls im Begriff ist zu springen. Und wie durch ein Wunder kracht Mannis kaputtes Bein auf Viktors Hüfte, der Schmerz macht ihn blind und sie fallen zusammen, der Aufprall ist hart, aber sie sind immer noch auf dem verdammten Dach, wenn auch knapp. Und der Junge schreit und will sich befreien, es zu Ende bringen, über den Rand.
    Manni liegt auf ihm und hält ihn fest, mehr kann er nicht mehr tun. Und nach unendlich langer Zeit sind Judith Krieger und die Kollegen da und ziehen sie weiter aufs Dach, weg von der Kante, zurück ins Leben, auch wenn der Junge in Mannis Armen sich immer noch wehrt.

Mittwoch, 3. August
    Stark und selbstbewusst wollte sie ihre Kinder machen. Daran hat sie geglaubt. Und Jonny ist stark gewesen, kein Opfertyp. Doch gerade das ist ihm zum Verhängnis geworden.
    Jonnys Tod ist tragisch, hat der blonde Kommissar gesagt. Ein aus den Fugen geratener Streich, geboren aus Verantwortungslosigkeit und Lieblosigkeit und Angst vor Entdeckung.
    Ein Streich?, hat Martina tonlos gefragt.
    Die Täter sind Jugendliche, hat der blonde Kommissar geantwortet und immer weiter geredet und erklärt und geduldig ihre Fragen beantwortet, obwohl er unglaublich müde und übel zugerichtet aussah.
    Martina geht nach oben, in die Zimmer der Kleinen. Man kann so wenig tun, denkt sie. Man bemüht sich so sehr und am Ende war alles umsonst.
    »Gute Nacht, meine Tini«, flüstert Leander, legt die Arme um Martinas Hals und drückt sie ganz fest. Und sie hält es aus und atmet seinen Duft, süß und vertraut, und dank irgendeiner übermenschlichen Macht gelingt es ihr schließlich, sich aus der Umarmung des Sohnes zu lösen, der ihr geblieben ist, ihm ebenfalls eine gute Nacht zu wünschen und aus seinem Zimmer zu schleichen. Sie schaut noch einmal bei Marlene hinein, aber ihre Tochter schläft, den Stoffelefanten fest im Arm, die Nase ins Kissen gegraben, das Haar zerzaust, ein Sinnbild kindlichen Urvertrauens. Urvertrauen, das es in diesem Haus eigentlich nie wieder geben kann. Und doch, denkt Martina, ist es da, hier im ersten Stock, in diesen beiden Zimmern.
    Auf der Kommode im Flur liegt Lenes geliebtes Leopold-Leuchtkäfer-Bilderbuch und sein Anblick legt die Stahlklammer noch ein Stück enger um Martinas Herz. Morgen Nachmittag wird Jonny ins Beerdigungsinstitut überführt. Heute Nachmittag haben sie den Kleinen gesagt, dass die Reise von Jonny und Dr. D. keine normale Urlaubsreise ist, sondern eine Reise in eine andere Welt. Ganz weit weg, in den Himmel, von wo sie nun auf Lene und Leander herunterblicken und sie behüten.
    Kann Jonny mich denn wirklich immer sehen?, hat Lene gefragt, als der erste Schreck vorüber war. Auch nachts, wenn es dunkel ist? Ja, auch dann, hat Martina versichert und versucht, nicht an diese irrsinnigen Stunden der Dunkelheit und Angst zu denken, die Jonny in dem Bunker durchleiden musste. Allein, außer sich vor Trauer um Dr. D., ohne jedes Licht. Aber natürlich hat sie den Kindern die Bürde dieses Wissens verschwiegen. Jonny hat doch seine Taschenlampe, hat sie gesagt, und tatsächlich fanden die Kleinen das beruhigend.
    Sie haben vereinbart, in der nächsten sternenklaren Nacht gemeinsam im Himmel nach Jonnys Lichtzeichen Ausschau zu halten. Vielleicht sollten wir sogar einen Jonnystern bestimmen, denkt Martina. Einen Jonnystern, einen Dr. D.-Stern und einen Leopold-Leuchtkäfer-Stern, denn Lene und Leander sind wild entschlossen, Jonny das Leopold-Buch mit auf seine Reise zu geben, damit er sich nicht langweilen muss.
    Martina nimmt das Bilderbuch mit nach unten und legt es auf die Garderobenablage. Die Taschenlampe, das Buch und Dr. D. – das sollen die Grabgaben für Jonny sein. Martina weiß, dass das mit dem Dackel verboten ist, aber irgendeinen Weg wird sie schon finden.
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