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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis
Autoren: Gisa Klönne
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das ist unwichtig, denn genau in diesem Moment gibt Mannis Unterbewusstsein endlich preis, was es so lange verborgen hat.
    »Lass mich«, sagt er. »Mein Vater ist gerade gestorben. Ich weiß, wie es Viktor geht.«
    »Hagen Petermann ist nicht tot.«
    »Bitte! Vertrau mir.«
    Ein grauhaariger Mann in Freizeitkleidung wackelt auf sie zu und schwenkt einen Schlüsselbund.
    »Der Hausmeister!« Judith Krieger macht Anstalten, auszusteigen.
    Manni fasst sie am Arm. »Lass mich das machen. Bitte!«
    Sie sieht ihm direkt in die Augen. Ein unergründlich grauer Blick.
    »Ich halte dir die Kollegen eine Weile vom Leib«, sagt sie schließlich, und aus irgendeinem Grund, den Manni sich selbst nicht erklären kann, ist seine Erleichterung so groß, dass er auf der Stelle losheulen könnte.
    Aber für so einen Quatsch ist jetzt echt keine Zeit. Er nickt dem Hausmeister zu, ignoriert den Schmerz, so gut es geht, sieht an der Fassade hoch, während sie den Schulhof überqueren. Fünf Stockwerke Fenster und Stein, darüber ein Flachdach. Genug, um sich zu töten.
    Wieder eine Betontreppe, breit diesmal, und die Stufen führen nach oben, nicht in einen Bunker, der für zwei Jungen zur Hölle wurde. Jeder Tritt schießt heiße Lava durch Mannis Knie. Er beißt die Zähne zusammen, fühlt, wie ihm Schweiß in den Nacken rinnt.
    »Hier geht’s aufs erste Dach«, sagt der Hausmeister schließlich und öffnet eine Tür. »Ganz nach oben kommen Sie dann über die Feuerleiter.«
    Die Luft ist grau wie Judith Kriegers Augen. Ein Flugzeug sticht durch die Wolkendecke. Ein Vogel schreit. Von Viktor ist nichts zu sehen. Manni hinkt über das Flachdach, erreicht die Feuerleiter, greift nach den Metallstreben, die heiß in seinen Händen glühen. Er zieht sich hoch, zieht das kaputte Bein hinter sich her, sein Herz pumpt so hart wie bei der Verfolgungsjagd am Morgen. Jetzt kann er es zu Ende bringen. Jetzt darf er es nicht versieben. Er hat nur diese eine Chance.
    Er erreicht das zweite Dach und hält inne, um sich ein Bild zu machen. Viktor steht nur wenige Meter neben ihm, ganz nah an der Dachkante. Er raucht, starrt nach unten. Manni stemmt sich hoch, richtet sich auf. Der Junge fährt herum. Schock, Wiedererkennen und Angst verzerren sein Gesicht, unwillkürlich macht er ein paar Schritte auf Manni zu. Dann hat er sich wieder unter Kontrolle.
    »Ich springe«, warnt er. »Bleib da stehen.«
    Manni hebt die Hände, eine Geste, die beruhigend wirken soll. Ein paar Schritte Anlauf und ein Mae tobi geri würden genügen, um Viktor niederzustrecken. Aber die Distanz ist zu groß, die Dachkante ist zu nah, Viktor lässt ihn nicht aus den Augen und Mannis Sprungbein ist praktisch im Arsch.
    »Mein Vater hat meine Mutter geschlagen, wenn er schlechte Laune hatte«, sagt Manni. »Er hat mich geschlagen. Nicht einmal wenn ich als Kind Geburtstag hatte, war er nett zu mir. Einmal hat er mir eine Tüte gelbe Gummibärchen geschenkt. Ich hab sie alle auf einmal gegessen, weil ich Angst hatte, dass er sie mir wieder wegnimmt. Hinterher hab ich gekotzt.«
    Unten, weit entfernt, heult ein Martinshorn. Manni hofft inständig, dass Judith Millstätt davon überzeugen kann, den obligatorischen Großeinsatz zurückzuhalten, denn noch mehr Polizei würde Viktor direkt über die Kante treiben, das kann er spüren. Manni schiebt sich ein winziges Stück auf den Jungen zu.
    »Stehen bleiben, Bulle!« Viktor weicht einen Schritt zurück. »Was geht mich dein Alter an?«
    Er wird es nicht schaffen, er kann Viktor nicht stoppen. Es war ein Fehler, hier den Alleingang zu proben, er ist kein Psychologe, er hätte auf die Krieger hören sollen, wenigstens dieses eine Mal. Judith Krieger, die in Ungnade gefallene und trotzdem zurückgeholte Superkommissarin mit ihrem legendären Verhandlungsgeschick, die ihm den Vortritt gelassen hat, obwohl sie sich selbst noch längst nicht wieder rehabilitiert hat. Die ihm vertraut. Das jedenfalls glaubte er vorhin in ihren Augen zu lesen.
    »Bulle«, sagt Manni. »So hat mein Vater mich auch genannt. Das allerletzte Mal, als ich ihn gesehen habe, hat er sogar vor mir ausgespuckt, weil ich Bulle bin.«
    Noch ein Martinshorn. Viktors Augen flackern. Wieder schreit ein Vogel, hässlich und heiser, vielleicht eine Elster.
    »Ich weiß nicht, warum, aber ich wollte immer Bulle werden«, redet Manni weiter. »Gleich als mir klar wurde, dass das mit einer Karriere als Cowboy nichts wird. Vielleicht weil ich mir einbildete, dann hätte ich
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