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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis
Autoren: Gisa Klönne
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Knattern und ein Lichtblitz, dahinten Richtung Straße. Im nächsten Moment kann sie nichts mehr erkennen und das Motorengeräusch entfernt sich.
    Wo ist Barabbas? Plötzlich ergreift die Nachtangst wieder Besitz von ihr. Was wäre ich ohne meinen Hund? Was bleibt mir, wenn er stirbt? Sie ruft nach ihm und entdeckt ihn in einer Kuhle, er wälzt sich selig im Dreck, es wird lange dauern, ihm den Staub aus dem Fell zu bürsten. Das ganze Haus stinkt nach Hund, gib’s doch zu, du schaffst es schon seit Monaten nicht mehr, das Vieh zu baden – die Stimme ihrer Tochter. Elisabeth Vogt schüttelt den Kopf, obwohl sie ganz genau weiß, dass Erinnerungen sich dadurch nicht vertreiben lassen.
    »Barabbas, hierher, komm zu Frauchen!« Ihr Ruf ist das heisere Gekrächz eines alten Weibs.
    »Barabbas!«
    Jetzt endlich bequemt sich der Schäferhund zu gehorchen, mit wedelnder Rute und beinahe schelmischem Blick. Nie kann sie ihm böse sein, nicht einmal als er sich jetzt ihrem Griff entzieht, um in langen Sätzen dorthin zurückzujagen, wo es geknattert und geblitzt hat. Nun ja, letztendlich ist es ihr gleich, welchen Weg sie nehmen, also folgt sie ihm. Der Boden ist sandig. Dreck rieselt in ihre Birkenstocksandalen, immer wieder muss sie die Füße von Gestrüpp befreien. Sie hört das kehlige Knurren ihres Hundes, bevor sie ihn sieht, und ein Hitzeschauer jagt ihr über den Rücken. Derdickgeflochtene lederne Griff der Hundeleine liegt in ihrer Hand wie ein toter Aal.
    »Bara…«, ihre Stimme versagt. In all den Jahren ihres Zusammenlebens hat sie sich nicht vor ihrem Hund gefürchtet, er hat ihr nie einen Grund dafür gegeben. Jetzt aber will sie fliehen, will nicht sehen, was aus ihrem freundlichen Gefährten ein geiferndes Höllentier macht, doch eine Macht, die stärker ist als sie, schiebt sie dennoch zwischen die krüppeligen Bäume.
    Zuerst sieht sie nur Barabbas’ gekrümmten Rücken. Gesträubtes Fell, angespannte Muskeln, er hat sich in etwas verbissen, reißt daran, und die ganze Zeit grollt in seiner Kehle der Abgrund.
    »Barabbas, aus!« Das Entsetzen gibt ihr die Stimme wieder, sie lässt den Ledergriff der Hundeleine auf seinen Rücken niederfahren. Niemals zuvor hat sie ihm mehr als einen leichten Klaps mit der Zeitung gegeben, aber jetzt drischt sie wie von Sinnen auf ihn ein, mit einer Kraft, die sie längst verloren zu haben glaubte, zerrt den Rüden zugleich am Halsband und würgt ihn, bis sein Knurren endlich zum Winseln wird und er sein blutiges Maul öffnet.
    Schlaff und zerstört liegt seine Beute im Schmutz. Ein Rauhaardackel. Bilder flimmern vor Elisabeths Augen. Der Junge aus ihrer Straße mit seinem Struppi, beide mit glänzenden Augen. Ihr Enkel, wie er Barabbas umarmt und seine Mutter anbettelt, ihm doch bitte, bitte, bitte einen Hund zu schenken, wenigstens einen kleinen, es muss ja gar kein Schäferhund sein, ein Dackel reicht völlig, und nie, nie, nie will er danach noch ein anderes Geschenk haben, weder zu Weihnachten noch zu Ostern oder zum Geburtstag, und immer wird er mit seinem Hund Gassi gehen, ich schwöre, Mammi, ich schwöre, bitte, bitte, bitte.
    Sie hält Barabbas weiter im Würgegriff des Halsbands und schließt für ein paar gnädige Momente die Augen. Nein, sie will nicht sehen, was da liegt, sie will nicht hier bleiben, will nicht, kann nicht. Barabbas’ Keuchen und das aufdringliche Summen einer grünschillernden Schmeißfliege holen sie zurück in die Wirklichkeit des Wäldchens. Nach Hause, wirmüssen nach Hause, hier dürfen wir nicht bleiben, wenn sie uns hier finden und sehen, was Barabbas getan hat, werden sie ihn mir nehmen. Sie klinkt die Leine in sein Halsband und zerrt ihn Schritt für Schritt mit sich. Ihr Rücken schreit vor Schmerz, auf einmal spürt sie das wieder, und auch Barabbas’ Energie scheint verbraucht, er duckt sich zitternd an ihre Seite, ein verwirrter alter Hund, wie hat sie ihn nur so verprügeln können. Nach Hause, denkt sie wieder, wir müssen nach Hause, da sind wir sicher, da wird alles wieder gut.
    Die Sonne erklimmt den Himmel jetzt viel zu schnell, Elisabeths Kleid klebt an Schenkeln und Rücken, jeder Atemzug tut weh. Niemand wird erfahren, was du getan hast, ich passe auf dich auf, Barabbas, mein Freund, mein Gefährte, sie werden dich nicht einschläfern, das lasse ich nicht zu, verzeih, was ich dir angetan habe.
    Verzeih. Verzeih. Mit aller verbliebenen Kraft zwingt sie sich, nichts anderes zu denken als das.

    Die Villa im Kölner
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