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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis
Autoren: Gisa Klönne
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Scheppern fällt ihre Einkaufstüte auf den Boden. Judith reißt ihre Pistole aus dem Halfter, schaltet das Treppenlicht ein, starrt ihn an. Er wirkt absurd deplatziert in ihrem Treppenhaus. Ein Rucksack lehnt neben ihm an der Wand.
    Er hat ihr Vertrauen missbraucht. Er hat sie in der Wildnis ausgesetzt. Er hält seit Tagen die Polizei in Atem und jetzt sitzt er einfach vor ihrer Tür und lächelt. Sie nimmt die letzten Stufen bis zu ihrer Wohnungstür, richtet die Pistole weiterhin auf ihn. Sie wird ihn verhaften, er sitzt in der Falle. Die Luke zum Dach ist immer verschlossen. Judith lehnt sich an die Wand, so dass ihre Hüfte den Lichtschalter gedrückt hält.
    »Was machst du hier?«
    »Ich wollte dir das hier geben.« Er hält ihr einen dicken Umschlag hin.
    »Was ist das?«
    »Die Erklärung, nach der du vermutlich suchst.«
    Judith hat versucht, Margery zu erklären, dass ein Anti-Atomkraft-Aktivist nicht zwangsläufig mit herkömmlichen Gewaltverbrechern gleichzusetzen sei. Die Kanadierin hat trocken gelacht. Mach dir nichts vor.
    Judith packt die Walther fester. »Los, an die Wand.«
    Er sieht sich um, schätzt die Distanz zwischen ihnen ab.
    »Vergiss es. Letztes Stockwerk, Endstation!« Sie schreit.
    Er sieht sie an. »Du machst es kaputt.«
    »Ich mache es kaputt? Erspar mir die Romantiknummer!«
    »Okay, du hast Recht, ich hab es kaputtgemacht.«
    »Du bist einfach abgehauen.«
    »Als du dich auf einmal als Polizistin geoutet hast, hab ich Panik gekriegt. Und mich hintergangen gefühlt. Wieso hast du mir das nicht gleich gesagt?«
    »Ich dachte nicht, dass es für dich etwas ändert. Ich wusste ja nicht, dass du Charlotte umgebracht hast.« Die Walther liegt schwer in Judiths Hand. Sie packt sie fester, presst die Hüfte weiter an den Lichtschalter.
    »Ich habe Charlotte nicht umgebracht!«
    »Ach nein? Und warum bist du dann abgehauen?« Judith ist so müde, so unendlich müde. Sie sucht Davids Augen, fixiert ihn, wie in einem Verhör.
    »Es war ein Reflex, eine Kurzschlusshandlung. Ein blödsinniger Fehler, ich weiß. Ich wollte Zeit gewinnen. Ich wollte einfach nicht, dass alles von vorn losgeht, wie damals in Deutschland.«
    »Du hättest zurückkommen können.«
    »Ich war noch nie sehr gut darin, Konflikte auszuhalten.«
    »Du hättest mir vertrauen können.«
    Er starrt auf Judiths Pistole. »Das sagst ausgerechnet du.«
    Er darf nicht flüstern, er darf nicht so traurig aussehen, weil das die Erinnerung an seine Umarmungen zurückbringt. Das Treppenhauslicht erlischt, hektisch presst Judith sich wieder an den Schalter. Sie darf keinen Fehler machen, nicht wieder, nicht jetzt.
    »Du hast mich in der Wildnis ausgesetzt.«
    »Du hattest doch die Hütte, Vorräte. Ich hätte dich schon nicht verhungern lassen. Ich hätte dafür gesorgt, dass die Polizei dich findet.«
    »Ja, klar. So wie du es bei Charlotte gemacht hast.«
    »Ich habe ihr nichts getan. Ich weiß nicht, wo sie ist. Bitte, das musst du mir glauben.«
    »Mach dich doch nicht lächerlich, für wie dämlich hältst du mich?«
    Wieder hält er ihr den Umschlag hin. »Bitte nimm das. Charlottes Notizen.«
    »Fertig zensiert, nehme ich an. Wo hast du die her?«
    »Ich bin gekommen, um Charlotte abzuholen, damit sie ihren Rückflug erreicht. Ihr Kanu trieb auf dem See, ihre Klamotten lagen darin. Das kam mir so komisch vor. Ich habe das Kanu an Land geschleppt. Ich habe nach ihr gesucht und gerufen, aber ich habe sie nicht gefunden. Das Lager war aufgeräumt. Die Notizbücher lagen im Zelt. Ich habe sie gelesen und daraus geschlossen, dass sie sich umgebracht hat. Dass sie ins Wasser gegangen ist.«
    »Sie konnte nicht schwimmen.«
    »Ich weiß«, sagt David leise. »Sie trug im Kanu immer ihre Schwimmweste.«
    »Wann hast du sie zum letzten Mal lebend gesehen?«
    »Am zehnten Juni. Zwei Wochen vor ihrem geplanten Rückflug.«
    Wie lange dauert es, bis man verhungert? Tage, Wochen. Wollte Charlotte das? Stunde um Stunde an Lebenskraft verlieren, qualvoll, langsam, allein auf der Insel? Oder hat Karl-Heinz Müller Recht und es war ein Unfall? Wollte sie eigentlich ins Wasser gehen und hat sich dann doch nicht getraut? Die Vorstellung ist brutal. Unwillkürlich schließt Judith die Augen, schrickt zusammen, weil die Treppe knarrt. David kommt auf sie zu.
    »Bleib! Keine Bewegung!« Judiths Schrei gellt durchs Treppenhaus, sie richtet die Walther direkt auf seine Brust. Sie muss ihn verhaften, Verstärkung holen. Sie darf sich nicht wieder von
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