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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar
Autoren: Paul Auster
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die Welt für mich so schön ausgesehen.
    Ich ging nicht zum Lunch. Ich sagte, es gehe mir nicht gut, was teils wahr und teils gelogen war. Ich hätte gehen können, wenn ich mich dazu gezwungen hätte, wenn ich wirklich hätte gehen wollen, aber ich war nicht in der Stimmung, mich zu zwingen, und ich wollte nicht gehen. Ich brauchte eine Pause von R. B., außerdem steckte mir noch die Reise in den Knochen. Der Jetlag. Ich war erschöpft und todmüde. Ohne mir die Mühe zu machen, mich auszuziehen, legte ich mich aufs Bett und schlief volle drei Stunden lang. Am ganzen Körper durchnässt wachte ich auf, der Schweiß strömte mir aus allen Poren, mein Mund war ausgetrocknet, in meinem Kopf hämmerte es. Ich stieg aus meinen Sachen, ging ins Bad, hängte eine mit Wasser gefüllte Plastiktüte an den Duschhaken, drehte die Düse auf und ließ mir das Wasser auf den Kopf rauschen. Eine lauwarme Dusche in der Mittagshitze. Das Bad befand sich im Freien, eine in den Fels gehauene Nische weit oben auf der Klippe, unter mir nichts als der endlose glitzernde Ozean. Noch nie hat die Welt so schön ausgesehen. Ja, sagte ich mir, das ist zweifellos ein schöner Ort, aber es ist eine raue Schönheit, eine ungastliche Schönheit, und ich freue mich schon darauf, von hier wegzukommen.
    Dann kam ich auf die Idee, an meinem Tagebuch weiterzuschreiben, war aber zu aufgewühlt, um ruhig am Tisch zu sitzen. Und überhaupt schien es mir besser, während meines Aufenthalts auf der Insel gar nichts zu schreiben. Was, wenn R. B. in mein Zimmer schlich und das Tagebuch fand, fragte ich mich; was, wenn er die Dinge las, die ich über ihn notierte? Dann wäre der Teufel los. Das konnte sogar gefährlich für mich werden.
    Ich versuchte zu lesen, konnte mich aber nicht konzentrieren. All die nutzlosen Bücher, die ich für meinen Urlaub in der Sonne eingepackt hatte. Romane von Bernhard und Vila-Matas, Gedichte von Dupin und du Bouchet, Essays von Sacks und Diderot - großartige Bücher, für mich aber nutzlos, nachdem ich an meinem Ziel angekommen war.
    Ich setzte mich auf den Stuhl am Fenster. Ich ging im Zimmer auf und ab. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl.
    Und wenn R. B. nicht verrückt geworden ist?, fragte ich mich. Wenn er mit mir spielt, mir einen Heiratsantrag macht, um mich aufzuziehen, um sich über mich lustig zu machen, um sich auf meine Kosten zu amüsieren? Auch das war möglich. Alles war möglich.
    Beim Essen an diesem Abend trank er heftig. Zwei große Rumpunsch, bevor wir uns an den Tisch setzten; während der Mahlzeit dann reichliche Mengen Wein. Anfangs schien das keine Wirkung zu haben. Er erkundigte sich besorgt, ob es mir besser gehe, und ich sagte ja, das Nickerchen habe mir sehr gutgetan, und danach unterhielten wir uns über Kleinigkeiten, Nebensächliches, von Heiraten war keine Rede, auch nicht von Adam Walker oder irgendwelchen Büchern über geheimdienstliche Aktivitäten, die man zu Romanen machen könnte. Obwohl wir Französisch sprachen, fragte ich mich, ob er vielleicht nur nicht vor den Dienstboten von diesen Dingen reden wollte. Ich fragte mich auch, ob er etwa senil sei, im Anfangsstadium von Alzheimer oder Demenz, und schlicht vergessen hatte, worüber wir früher am Tag gesprochen hatten. Vielleicht huschten ihm Gedanken durch den Kopf wie Schmetterlinge oder Moskitos - kurzlebige Schemen, die so schnell kamen und gingen, dass er nicht mehr mit ihnen mithalten konnte.
    Nach etwa zehn oder fünfzehn Minuten kam er jedoch auf Politik zu sprechen. Ohne jede privaten Bezüge, nicht mit Geschichten von eigenen Erfahrungen, sondern abstrakt, theoretisch, ziemlich so wie der Professor, der er fast sein ganzes Leben lang gewesen war. Er begann mit der Berliner Mauer. Alle im Westen waren so glücklich, als die Mauer fiel, sagte er, alle dachten, ein neues Zeitalter des Friedens und der Nächstenliebe sei angebrochen, in Wirklichkeit aber war es das beunruhigendste Ereignis der letzten Jahrzehnte. So unangenehm der Kalte Krieg gewesen sein möge, er habe die Welt vierundvierzig Jahre lang zusammengehalten, und jetzt, da die einfache, in Schwarz und Weiß aufgeteilte Welt des Wir-gegen-sie untergegangen sei, seien wir in eine Epoche der Unsicherheit und des Chaos eingetreten, die manche Ähnlichkeit mit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg besitze. Gleichgewicht des Schreckens - eine beängstigende Vorstellung, gewiss, aber wenn eine Hälfte der Menschheit in der Lage ist, die andere Hälfte zu vernichten, und
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