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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar
Autoren: Paul Auster
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erblicken sollen, den Horror der kolonialen Vergangenheit, die Gräuel im Kongo, in Französisch-Afrika, die Jahrhunderte des Elends - Ich darf nicht so weitermachen. Ich rede mich in Rage, und wenn ich diese Tage ohne geistigen Schaden überstehen will, darf ich nicht die Fassung verlieren. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass Samuel nicht im geringsten unglücklich war mit dem, was er tat. Er ist diesen Berg schon zigtausendmal rauf- und runtergegangen, für ihn ist es selbstverständlich, Vorräte auf dem Kopf zu tragen, und für einen Mann, der auf einer so armen Insel wie dieser geboren wurde, ist es ein guter Job, im Haus eines Mannes wie R. B. zu arbeiten. Wenn ich ihn bat, stehenzubleiben, tat er das jedes Mal, ohne zu klagen. Kein Problem, Ma'am, immer schön langsam. Wir kommen an, wenn wir ankommen.
    R. B. schlief in seinem Zimmer, als wir den Gipfel des Berges erreichten. So unbegreiflich das sein mochte, gab es mir immerhin die Möglichkeit, mich in meinem eigenen Zimmer einzurichten (hoch, hoch oben mit Blick auf den Ozean) und wieder zu Kräften zu kommen. Ich duschte, zog frische Sachen an und brachte meine Frisur in Ordnung. Geringfügige Verbesserungen, mag sein, aber wenigstens blieb mir so die Peinlichkeit erspart, in einem so erbärmlichen Zustand gesehen zu werden. Der Fußmarsch auf den Berg hatte mich fix und fertig gemacht.
    Trotz meiner Bemühungen konnte ich die Enttäuschung in seinen Augen sehen, als ich eine Stunde später ins Wohnzimmer trat - der erste Blick nach so vielen Jahren, und die traurige Erkenntnis, dass das junge Mädchen vergangener Zeiten zu einer ungepflegten, nicht allzu attraktiven Frau jenseits der Wechseljahre geworden war.
    Leider - nein, doch wohl eher zum Glück - beruhte die Enttäuschung auf Gegenseitigkeit. Früher hatte ich ihn verführerisch gefunden, gutaussehend auf eine ungeschliffene Weise, fast so etwas wie die ideale Verkörperung männlicher Selbstsicherheit und Stärke. R. B. war nie schlank gewesen, aber in den Jahren, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er beträchtlich an Gewicht zugenommen, massenhaft überflüssige Pfunde zugelegt, und als er aufstand, um mich zu begrüßen (nur mit Shorts bekleidet, kein Hemd, keine Schuhe, keine Strümpfe), konnte ich nur staunen, wie dick sein Bauch geworden war. Der Bauch ähnelt jetzt einem großen Medizinball, und sein Schädel, dem inzwischen die meisten Haare ausgefallen sind, erinnerte mich an einen Volleyball. Ein lächerliches Bild, ich weiß, aber die Psyche sondert ständig ihren schrulligen Unsinn ab, und das sah ich nun einmal, als er aufstand und mir entgegenkam: einen Mann, der aus zwei Kugeln zusammengesetzt war, Medizinball und Volleyball. Er ist also sehr viel umfangreicher, aber nicht wie ein Wal, nicht aufgedunsen oder schwabbelig - einfach nur mächtig. Die Haut auf seinem Bauch ist recht straff, und von den fleischigen Falten an Knien und Hals einmal abgesehen, sieht er für einen Mann seines Alters ziemlich fit aus.
    Kaum hatte ich ihn wahrgenommen, verschwand der niedergeschlagene Ausdruck aus seinen Augen. Mit der ganzen Souveränität eines erfahrenen Diplomaten ließ R. B. auf seinem Gesicht ein Lächeln erstrahlen, breitete die Arme aus und umfing mich. Ein Wunder ist geschehen, sagte er.
    Diese Umarmung erwies sich als der Höhepunkt des Abends. Wir tranken den Rumpunsch, den Samuel für uns zubereitet hatte (sehr gut), ich sah zu, wie R. B. den Sonnenuntergang filmte (das kam mir schwachsinnig vor), und dann ließen wir uns zum Essen nieder (schwere Kost, Rind mit reichlich dicker Sauce, nicht gerade das Ideale in diesem Klima - eher etwas fürs Elsass im tiefsten Winter). Die alte Köchin, Nancy, ist überhaupt nicht alt - vierzig, höchstens fünfundvierzig -, und ich frage mich, ob sie in diesem Haushalt nicht zwei Jobs hat: Köchin bei Tage, R. B.s Bettgenossin bei Nacht. Melinda ist Anfang zwanzig und daher wahrscheinlich zu jung, die letztere Rolle auszufüllen. Sie ist übrigens ein schönes Mädchen, so schön, wie Samuel gutaussehend ist, ein großes schlankes Geschöpf mit wunderbar gleitendem Gang, und aus den verstohlenen Blicken, die sie einander zuwerfen, möchte ich schließen, dass sie und Samuel ein Paar sind. Nancy und Melinda servierten das Essen, Samuel räumte ab und wusch das Geschirr, und je weiter die Mahlzeit ihren Fortgang nahm, desto größer wurde meine Verstimmung. Irgendwie erregt es mein Unbehagen, besonders in einer Situation wie dieser, wenn
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