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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar
Autoren: Paul Auster
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in der du dich jetzt befindest - würde ich gern ein Experiment vorschlagen. Ein Experiment in Form eines geschäftlichen Vorschlags. Erinnerst du dich an das Buch, von dem ich dir in einem meiner Briefe erzählt habe?
Du hast erwähnt, dass du Notizen für deine Memoiren sammelst.
Ganz recht. Ich bin fast so weit, dass ich mit der Niederschrift beginnen kann, und ich möchte, dass du mir dabei hilfst. Ich möchte, dass wir das Buch zusammen schreiben.
Du vergisst, dass ich in Paris bereits eine Arbeit habe. Eine Arbeit, die mir sehr viel bedeutet.
Was auch immer sie dir beim CNRS an Gehalt zahlen, von mir bekommst du das Doppelte.
Es geht mir nicht um Geld.
Ich verlange ja nicht, dass du deinen Job kündigen sollst. Es reicht, wenn du dich für eine gewisse Zeit beurlauben lässt. Ich schätze, wir brauchen für das Buch ungefähr ein Jahr, und falls du nicht hier bei mir bleiben willst, wenn wir fertig sind, gehst du nach Paris zurück. Unterdessen verdienst du doppelt so viel wie jetzt - bei freier Kost und Logis, nebenbei bemerkt -, und vielleicht findest du in dieser Zeit heraus, dass du mich heiraten willst. Ein Experiment in Form eines geschäftlichen Vorschlags. Verstehst du, wie ich das meine?
    - Ja, sicher. Aber warum sollte ich daran interessiert sein, am Buch eines anderen zu arbeiten? Ich habe selbst genug zu tun.
Wenn du erst einmal weißt, wovon das Buch handelt, wirst du dich schon dafür interessieren.
Das Buch handelt von deinem Leben.
Richtig, aber weißt du irgendetwas über mein Leben, Cecile?
Du bist emeritierter Professor für Politologie und internationale Angelegenheiten.
Unter anderem, ja. Aber ich habe nicht nur Vorlesungen über Regierungen gehalten, ich habe auch für eine gearbeitet.
Die französische Regierung?
Selbstverständlich. Schließlich bin ich Franzose.
Und was für eine Art von Arbeit war das?
Geheimdienst.
Geheimdienst ... Du redest von Spionage?
    - Finstere Machenschaften in jeglicher Form, meine Liebe.
Also wirklich. Davon habe ich nichts geahnt.
Angefangen hat das für mich schon in Algerien, da war ich noch ein junger Mann. Und dann war ich bis zum Ende des Kalten Kriegs dabei.
Mit anderen Worten, du hast ein paar spannende Geschichten zu erzählen.
Mehr als spannend. Geschichten, die dir das Blut in den Adern erstarren lassen.
Darfst du diese Sachen denn veröffentlichen? Ich dachte, es gibt Gesetze, die es Regierungsmitarbeitern verbieten, Staatsgeheimnisse auszuplaudern.
Falls wir irgendwelche Schwierigkeiten bekommen, schreiben wir das Manuskript um und bringen es als Roman heraus - unter deinem Namen.
    - Unter meinem Namen?
    - Ja, unter deinem Namen. Ich halte mich heraus, und du hast den ganzen Ruhm für dich allein.

    Inzwischen glaubte ich ihm kein Wort mehr. Als R. B. aus dem Zimmer ging, war ich mir vollkommen sicher, dass er verrückt war, dass er den Verstand verloren hatte und völlig übergeschnappt war. Er hatte zu viele Jahre auf Quillia verbracht, die Tropensonne hatte die Drähte in seinem Hirn geschmolzen und ihn in den Wahnsinn getrieben. Spionage. Heiraten. Memoiren, die sich in Romane verwandelten. Er war wie ein Kind, ein verzweifeltes Kind, das irgendwelche Dinge erfand, alles aussprach, was ihm in den Kopf kam, und es dann zu einem Märchen ausspann, das seinen jeweiligen Zwecken gerade am förderlichsten war - in diesem Fall der bizarren, völlig grotesken Idee, mich zu heiraten. Er wollte mich nicht heiraten. Er konnte mich nicht heiraten wollen. Aber falls doch, falls er dachte, er könne es, war dies nur ein weiterer Beweis dafür, dass er nicht bei Sinnen war.
    Ich tat so, als machte ich mit, verhielt mich, als nähme ich sein Experiment in Form eines geschäftlichen Vorschlags ernst. Hatte ich zu große Angst, ihn zu provozieren, oder versuchte ich bloß, einen unangenehmen Auftritt zu vermeiden? Ein bisschen von beidem, nehme ich an. Ich wollte nichts sagen, was ihn in Wut bringen konnte, zugleich aber fand ich die Unterhaltung unerträglich langweilig und wollte ihn so schnell wie möglich loswerden. Du überlegst es dir also?, fragte er. Ja, sagte ich, ich verspreche, dass ich es mir überlegen werde. Aber bevor ich zu einem Entschluss komme, musst du mir mehr über dieses Buch erzählen. Natürlich, antwortete er, das versteht sich von selbst. Ich habe noch einiges mit Samuel im Haus zu erledigen, aber beim Lunch können wir darüber reden. Dann tätschelte er mir die Wange und sagte: Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Noch nie hat
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