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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar
Autoren: Paul Auster
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Zwanzigjährigen wie mich, mit ihren schwarzen Haaren, dem schwarzen Rollkragenpullover, dem schwarzen Minirock, den schwarzen Lederstiefeln und dem dicken schwarzen Make-up um ihre großen grünen Augen. Keine Schönheit, mag sein, aber ein Abbild von Schönheit, als verkörperten der Stil und die Raffinesse ihrer Erscheinung das weibliche Ideal jener Epoche.
    Born sagte, er und Margot hätten gerade gehen wollen, aber dann hätten sie mich allein in der Ecke stehen sehen, und da ich so unglücklich gewirkt habe, seien sie gekommen, um mich aufzuheitern - nur um sicherzugehen, dass ich mir nicht vor dem Ende des Abends die Kehle aufschlitzte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich diese Bemerkung deuten sollte. Wollte dieser Mann mich beleidigen, fragte ich mich, oder versuchte er wirklich, einem einsamen jungen Fremden eine Freundlichkeit zu erweisen? Die Worte selbst hatten etwas Verspieltes, Entwaffnendes, aber sein Blick dabei war kalt und distanziert, und ich hatte unwillkürlich das Gefühl, dass er mich auf die Probe stellte, mich verhöhnte - nur warum, das war mir unbegreiflich.
    Ich zuckte die Achseln, lächelte matt zurück und sagte: Ob Sie's glauben oder nicht, aber ich amüsiere mich köstlich.
    Nun stand er auf, gab mir die Hand und nannte seinen Namen. Nach meiner Erkundigung wegen Bertran de Born stellte er mir Margot vor, die mich schweigend anlächelte und sich dann wieder ihrer Aufgabe zuwandte, ausdruckslos ins Leere zu starren.
    Ihrem Alter, sagte Born, und Ihrer Kenntnis obskurer Dichter nach zu urteilen, möchte ich Sie für einen Studenten halten. Sie studieren Literatur, richtig? NYU oder Columbia?
    Columbia.
    Columbia, seufzte er. So ein langweiliger Laden. Sie kennen sich da aus?
    Ich lehre seit September dort an der School of International Affairs. Gastprofessur für ein Jahr. Zum Glück haben wir schon April, und in zwei Monaten gehe ich nach Paris zurück.
    Sie sind also Franzose.
    Nach Umständen, Neigung und Pass. Von Geburt jedoch Schweizer.
    Französische Schweiz oder deutsche Schweiz? Ich höre ein wenig von beidem in Ihrer Stimme.
    Born schnalzte leise mit der Zunge und sah mir neugierig in die Augen. Sie haben ein feines Gehör, sagte er. Tatsächlich trifft beides zu - ich bin das hybride Produkt einer Deutsch sprechenden Mutter und eines Französisch sprechenden Vaters. Ich bin zweisprachig aufgewachsen.
    Unsicher, was ich darauf sagen sollte, schwieg ich kurz und stellte dann eine harmlose Frage: Und was genau lehren Sie an Ihrer tristen Universität?
    Katastrophen.
    Ist das nicht ein ziemlich weites Feld?
    Um es einzugrenzen: die Katastrophen der französischen Kolonialherrschaft. Ich halte eine Vorlesung über den Verlust Algeriens und eine weitere über den Verlust Indochinas.
    Der reizende Krieg, den wir von Ihnen geerbt haben.
    Unterschätzen Sie die Bedeutung von Kriegen nicht. Krieg ist die reinste, klarste Äußerung der menschlichen Seele.
    Allmählich hören Sie sich an wie unser kopfloser Dichter.
    Ach?
    Ich nehme an, Sie haben ihn nicht gelesen? Kein Wort. Ich kenne seinen Namen nur von dieser Stelle bei Dante.
    De Born war ein guter Dichter, vielleicht sogar ein ausgezeichneter Dichter - aber ein zutiefst beunruhigender. Er schrieb ein paar entzückende Liebesgedichte und ein bewegendes Klagelied auf den Tod Prinz Heinrichs, aber sein eigentliches Thema, das einzige, für das er sich mit echter Leidenschaft interessierte, war der Krieg. Er schwärmte geradezu davon.
    Ich verstehe, sagte Born und schenkte mir ein ironisches Lächeln. Ein Mann ganz nach meinem Geschmack.
    Ich rede von der Freude daran, Männern zuzusehen, die sich gegenseitig den Schädel einschlagen, Schlösser einstürzen und brennen zu sehen, Tote zu sehen, deren Leiber von Lanzen durchbohrt sind. Blutrünstiges Zeug, glauben Sie mir, und de Born zuckt mit keiner Wimper. Schon der bloße Gedanke an ein Schlachtfeld erfüllt ihn mit Glück.
    Ich nehme an, Sie haben kein Interesse daran, Soldat zu werden.
    Nicht im geringsten. Eher gehe ich ins Gefängnis, als dass ich in Vietnam kämpfe.
    Angenommen, es gelingt Ihnen, sowohl dem Gefängnis als auch der Armee zu entgehen - haben Sie Pläne?
    Keine Pläne. Nur weitermachen mit dem, was ich gerade tue, und hoffen, dass was draus wird.
    Und das wäre?
    Schriftsteller werden. Mich der schönen Kunst des Kritzeins widmen.
    Das dachte ich mir. Als Margot Sie vorhin entdeckte, sagte sie zu mir: Sieh mal, der Junge mit den traurigen Augen und dem nachdenklichen
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