Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Gesicht - ich wette, das ist ein Dichter. Und? Sind Sie das? Ein Dichter?
    Ich schreibe Gedichte, ja. Und ab und zu Buchbesprechungen für den Spectator.
    Das Studentenblättchen.
    Jeder muss irgendwo anfangen.
    Interessant ...
    Nicht so sehr. Die Hälfte meiner Bekannten will Schriftsteller werden.
    Warum sagen Sie will. Wenn Sie es bereits tun, ist es kein Plan für die Zukunft. Dann existiert es bereits in der Gegenwart.
    Weil es zu früh ist. Ich kann noch nicht wissen, ob ich gut genug bin.
    Werden Sie für Ihre Artikel bezahlt?
    Natürlich nicht. Das ist eine Collegezeitung.
    Wenn man anfängt, Sie für Ihre Arbeit zu bezahlen, werden Sie wissen, dass Sie gut genug sind.
    Bevor ich antworten konnte, wandte Born sich plötzlich Margot zu und erklärte: Du hattest recht, mein Engel. Dein junger Mann ist ein Dichter.
    Margot hob die Augen, bedachte mich mit einem neutralen, abschätzenden Blick, und als sie nun zum ersten Mal etwas sagte, tat sie dies mit einem ausländischen Akzent, der wesentlich stärker war als der ihres Begleiters - unverkennbar französisch gefärbt. Ich habe immer recht, sagte sie. Das solltest du inzwischen wissen, Rudolf.
    Ein Dichter, fuhr Born fort, noch immer an Margot gewandt, der auch ab und zu Bücher bespricht, ein Student an der tristen Festung Columbia, was bedeutet, dass er wahrscheinlich unser Nachbar ist. Aber er hat keinen Namen. Zumindest nicht, dass ich wüsste.
    Walker, sagte ich, als mir klar wurde, dass ich mich nicht vorgestellt hatte, als wir uns die Hand gaben. Adam Walker.
    Adam Walker, wiederholte Born, wandte sich von Margot ab und wieder mir zu, um mich wiederum mit seinem rätselhaften Lächeln zu bedenken. Ein guter, solider amerikanischer Name. So kräftig, so neutral, so zuverlässig. Adam Walker. Der einsame Kopfgeldjäger in einem Breitwandwestern, der mit Flinte und Revolver auf seinem kastanienbraunen Wallach durch die Wüste stromert. Oder aber der gutmütige, anständige Chirurg in einer Daily Soap, der tragischerweise in zwei Frauen gleichzeitig verliebt ist.
    Der Name klingt solide, erwiderte ich, aber nichts in Amerika ist solide. Er wurde meinem Großvater verpasst, als er im Jahr neunzehnhundert nach Ellis Island kam. Anscheinend war Walshinksky den Einwanderungsbeamten zu kompliziert, also nannten sie ihn kurzerhand Walker.
    Was für ein Land, sagte Born. Analphabetische Beamte berauben einen Mann mit einem schlichten Federstrich seiner Identität.
    Nicht seiner Identität, sagte ich. Nur seines Namens. Er hat dreißig Jahre lang als koscherer Metzger auf der Lower East Side gearbeitet.
    Danach kam noch mehr, sehr viel mehr, ein Gespräch von gut einer Stunde, das ziellos von einem Gegenstand zum nächsten sprang. Vietnam und die wachsende Opposition gegen den Krieg. Die Unterschiede zwischen New York und Paris. Der Mord an Kennedy. Das amerikanische Handelsembargo gegen Kuba. Unpersönliche Themen, gewiss, aber Born hatte zu allem eine entschiedene Meinung, oftmals eine wilde, unorthodoxe Meinung, und da er seine Worte in einem halb spöttischen, verschlagen herablassenden Tonfall vorbrachte, konnte ich nicht erkennen, ob er es ernst meinte oder nicht. Manchmal klang er wie ein militaristischer Rechtsaußen, dann wieder äußerte er Vorstellungen, die man eher aus dem Mund eines bombenwerfenden Anarchisten erwarten würde. Versucht er mich zu provozieren, fragte ich mich, oder ist das seine gewöhnliche Art, sich an einem Samstagabend ein wenig zu amüsieren? Unterdessen war die unergründliche Margot von der Heizung geklettert, um sich von mir eine Zigarette zu schnorren; danach blieb sie stehen, trug aber nur wenig zur Unterhaltung bei, eigentlich so gut wie nichts, außer dass sie mich jedes Mal aufmerksam beobachtete, wenn ich etwas sagte, wie ein neugieriges Kind, das einen unverwandt anblickt. Ich muss gestehen, es gefiel mir, so von ihr angesehen zu werden, auch wenn es mich ein wenig nervös machte. Ich empfand ihre Blicke als vage erotisch, war aber damals noch nicht erfahren genug, um zu unterscheiden, ob sie mir etwas zu signalisieren versuchte oder einfach nur schaute um des Schauens willen. Die Wahrheit war, dass ich noch niemals Menschen wie die beiden kennengelernt hatte, und da sie mir so fremd waren, so unvertraut in ihrem Gebaren, schienen sie mir, je länger ich mit ihnen sprach, desto unwirklicher zu werden - wie imaginäre Figuren eines Romans, der sich in meinem Kopf abspielte.
    Ich weiß nicht mehr, ob wir getrunken haben,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher