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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar
Autoren: Paul Auster
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aber wenn die Party so war wie all die anderen, die ich seit meiner Ankunft in New York besucht hatte, muss es dort billigen Rotwein in Strömen und unerschöpfliche Vorräte an Pappbechern gegeben haben, was bedeutet, dass wir im Lauf unseres Gesprächs immer betrunkener geworden sein dürften. Ich wünschte, ich könnte noch mehr von dem ausgraben, worüber wir sprachen, aber 1967 ist lange her, und meine Bemühungen, die Worte, Gesten und flüchtigen Andeutungen dieser ersten Begegnung mit Born ans Licht zu holen, laufen meist ins Leere. Gleichwohl sehe ich noch ein paar Dinge deutlich vor mir. Born, wie er in die Innentasche seines Leinenjacketts greift, zum Beispiel, und den Stummel einer halbgerauchten Zigarre hervorzieht, und während er sie mit einem Streichholz entzündet, teilt er mir mit, es handele sich um eine Montecristo, die beste aller kubanischen Zigarren - in Amerika damals wie heute noch verboten -, und nur dank seiner persönlichen Beziehung zu jemandem, der an der französischen Botschaft in Washington arbeite, habe er dieses Exemplar ergattern können. Daran schlossen sich einige freundliche Worte über Castro an - dabei hatte er nur Minuten zuvor Leute wie Johnson, McNamara und Westmoreland für ihr heldenhaftes Wirken beim Kampf gegen die kommunistische Bedrohung in Vietnam gepriesen. Ich erinnere mich an meine Belustigung über den zerzausten Politologen, als er sich diese halbgerauchte Zigarre ansteckte, und daran, dass ich zu ihm sagte, er gleiche dem Besitzer einer südamerikanischen Kaffeeplantage, der nach zu vielen Jahren im Dschungel wahnsinnig geworden sei. Born lachte über die Bemerkung und gab zurück, so weit sei das gar nicht von der Wahrheit entfernt, denn er habe den größten Teil seiner Kindheit in Guatemala verbracht. Aber als ich ihn bat, mehr davon zu erzählen, winkte er ab und sagte ein andermal.
    Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen, sagte er, aber in einer ruhigeren Umgebung. Die ganze Geschichte meines unglaublichen Lebens. Sie werden sehen, Mr. Walker. Eines Tages schreiben Sie meine Biographie. Garantiert.
    Borns Zigarre und meine Rolle als sein zukünftiger Boswell, aber auch ein Bild von Margot, die mit ihrer rechten Hand mein Gesicht berührt und flüstert: Passen Sie auf sich auf. Das muss gegen Ende gewesen sein, als wir aufbrachen oder schon nach unten gegangen waren, aber ich habe keine Erinnerung an einen Aufbruch, keine Erinnerung daran, dass wir uns verabschiedet haben. Das alles ist weg, ausgelöscht von vierzig Jahren. Die beiden waren Fremde, die ich an einem Frühlingsabend im New York meiner Jugend, in einem New York, das nicht mehr existiert, auf einer lärmenden Party kennengelernt hatte, und das war's. Ich könnte mich irren, bin mir aber ziemlich sicher, dass wir uns nicht einmal die Mühe machten, unsere Telefonnummern auszutauschen.

    Ich ging davon aus, dass ich sie nie wiedersehen würde. Born hatte seit sieben Monaten an der Columbia gelesen, und da ich ihm in dieser ganzen Zeit nicht über den Weg gelaufen war, schien es unwahrscheinlich, dass ich ihm nun auf einmal begegnen würde. Aber Wahrscheinlichkeiten zählen nicht, wenn es um reale Ereignisse geht, und nur weil der Eintritt eines Ereignisses unwahrscheinlich ist, heißt das noch lange nicht, dass es nicht doch eintritt. Zwei Tage nach der Party ging ich nach der letzten Vorlesung des Nachmittags in die West End Bar, um dort vielleicht einen meiner Freunde zu treffen. Die West End Bar war ein schmuddliges, höhlenartiges Loch mit einem Dutzend Tische, einer riesigen ovalen Theke in der Mitte des vorderen Raums und einem Bereich in der Nähe des Eingangs, wo man sich mittags und abends mit schlechten Snacks verköstigen konnte - mein Stammlokal, frequentiert von Studenten, Säufern und Leuten aus der Nachbarschaft. Es war zufällig ein warmer Nachmittag, die Sonne schien, und folglich waren zu dieser Stunde nur wenige Gäste da. Als ich auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht durch die Bar schlenderte, sah ich Born allein an einem Tisch im hinteren Teil sitzen. Er las ein deutsches Nachrichtenmagazin (Der Spiegel, glaube ich), rauchte eine seiner kubanischen Zigarren und ignorierte das halbgeleerte Glas Bier, das links vor ihm auf dem Tisch stand. Wieder trug er seinen weißen Anzug - vielleicht auch einen anderen, denn das Jackett sah sauberer aus und war weniger zerknittert als das, das er an jenem Samstagabend getragen hatte -, aber das weiße Hemd war weg, das jetzige
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