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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar
Autoren: Paul Auster
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zu erklären. Die Franzosen würden mich verhaften, wenn ich versuchen würde, von diesen Dingen zu berichten.
    - Soll das heißen, du willst den Plan aufgeben?
    - Nein, überhaupt nicht. Aber damit wir die Wahrheit sagen können, werden wir sie als erfundene Geschichte darstellen müssen.
    - Das hast du gestern auch schon gesagt.
    - Ich weiß. Es kam mir in den Sinn, als wir uns unterhalten haben, aber nachdem ich jetzt länger darüber nachgedacht habe, scheint es mir die einzige Lösung zu sein.
    - Also ein Roman.
    - Ja, ein Roman. Ein Roman, das wird mir jetzt immer klarer, eröffnet uns grenzenlose Möglichkeiten. Wir können die Wahrheit sagen, ja, aber wir haben auch die Freiheit, uns etwas auszudenken.
    - Warum solltest du das tun?
    - Um die Geschichte interessanter zu machen. Natürlich nehmen wir mein Leben als Grundlage für die Handlung, aber die Gestalt, die in dem Buch mich darstellt, muss einen anderen Namen bekommen. Wir können diesen Mann nicht Rudolf Born nennen, richtig? Er wird jemand anders sein müssen - Mr. X, zum Beispiel. Sobald aus mir Mr. X geworden sein wird, bin ich nicht mehr ich selbst, und wenn ich nicht mehr ich selbst bin, können wir so viele Details hinzufügen, wie wir wollen.
    - Zum Beispiel?
    - Zum Beispiel ... vielleicht ist Mr. X nicht der Mann, der er zu sein scheint. Wir stellen ihn als einen dar, der ein Doppelleben führt. Die Welt kennt ihn als langweiligen Professor, als einen Mann, der an irgendeiner langweiligen Universität Vorlesungen über Politologie und internationale Angelegenheiten hält, in Wirklichkeit aber ist er auch ein Geheimagent, der den guten Kampf gegen die sowjetischen Kommunisten kämpft.
Das wissen wir doch schon. Das ist die Prämisse des Buchs.
Ja, ja - aber warte. Was, wenn sein Doppelleben kein Doppelleben, sondern ein Dreifachleben ist?
Ich kann dir nicht folgen.
Er scheint für die Franzosen zu arbeiten, tatsächlich aber arbeitet er für die Russen. Mr. X ist ein Maulwurf.
Das hört sich allmählich nach einem Thriller an -
Thriller. Dieses Wort muss man einfach lieben. Thriller.
Aber warum sollte Mr. X sein Land verraten?
Das kann viele Gründe haben. Nach jahrelangem Einsatz an der Front ist er vom Westen ernüchtert und bekehrt sich zur Sache der Kommunisten. Oder er ist ein Zyniker, der an gar nichts glaubt, und die Russen zahlen ihm gutes Geld, mehr Geld als die Franzosen ihm zahlen, was bedeutet, dass er mehr als doppelt so viel einnimmt, als wenn er nur für eine Seite arbeiten würde.
Scheint kein sehr sympathischer Typ zu sein.
Er muss auch nicht sympathisch sein. Nur interessant und komplex. Denk an den Mai achtundsechzig, Cecile. Erinnerst du dich daran, wie oft und wie fürchterlich wir uns gestritten haben?
Das werde ich nie vergessen.
Was, wenn Mr. X, der mit dem Feind verbandelte Doppelagent, vollkommen mit der jungen Cecile Juin übereinstimmt? Was, wenn er mit Entzücken wahrnimmt, wie Frankreich in Anarchie versinkt, wenn er beim Verfall Frankreichs und dem bevorstehenden Sturz der Regierung am liebsten Freudensprünge machen möchte? Aber er muss seine Tarnung schützen, und um das zu tun, vertritt er Ansichten, die das genaue Gegenteil von dem sind, woran er wirklich glaubt. Das gibt dem Ganzen einen hübschen zusätzlichen Dreh, oder?
Nicht schlecht.
Ich habe mir noch etwas anderes ausgedacht. Könnte schwierig werden, das hinzukriegen, aber wenn wir daran festhalten, aus Mr. X einen Maulwurf zu machen, wäre es von entscheidender Bedeutung - eine der finstersten, herzzerreißendsten Szenen des Buchs. Mr. X hat einen französischen Kollegen, Mr. Y. Sie waren viele Jahre lang gute Freunde, sie haben gemeinsam einige aufreibende Abenteuer bestanden, aber jetzt hat Mr. Y den Verdacht, dass Mr. X für die Sowjets arbeitet. Er konfrontiert ihn damit und sagt, wenn er nicht auf der Stelle aus dem Dienst ausscheide, werde er ihn festnehmen lassen. Vergiss nicht, das spielt sich Anfang der Sechziger ab. Da gab es noch die Todesstrafe, und eine Festnahme würde für Mr. X die Guillotine bedeuten. Was kann er tun? Ihm bleibt nichts anderes übrig, als Mr. Y zu töten. Natürlich nicht mit einer Kugel. Nicht mit einem Schlag an den Kopf oder mit einem Messer in den Bauch, sondern mit etwas Subtilerem, das keinen Verdacht auf ihn lenkt. Es ist Sommer. Mr. Y und seine Familie machen Urlaub irgendwo in den Bergen im Süden Frankreichs. Mr. X fährt dorthin, schleicht sich bei tiefer Nacht aufs Gelände und manipuliert die Bremsen von
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