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Unser Spiel

Unser Spiel

Titel: Unser Spiel
Autoren: Carre
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Zelt als Mantel, unter dem seine Kinder sich nach alter Sitte vor Stürmen und Gefahren verbergen können. Aber so sehr ich mich auch umblickte, einen großen unbekümmerten Engländer mit widerspenstiger Stirnlocke und einer Vorliebe für anderer Leute Hüte sah ich nicht.
    Tschetschejew war abgestiegen. Hinter mir sprangen Magomed und Issa leichtfüßig von ihren Pferden, doch Cranmer war nach allzu vielen Jahren zu Fuß auf seinem Sattel festgeschweißt. Mühsam versuchte ich mich loszumachen, aber meine Füße waren in den Steigbügeln verkeilt, bis Magomed mir wieder einmal zu Hilfe kam; er hob mich hoch, ließ mich in seine Arme sinken, stellte mich auf die Füße und fing mich auf, bevor ich umfiel. Kleine Jungen übernahmen unsere Pferde.
    Wir betraten den Hof. Tschetschejew ging voran, Issa neben mir, und beim Eintreten hörte ich sie auf arabisch ein Salam entbieten und sah die Männer, die gesessen hatten, vor uns aufstehen und die, die schon standen, wie auf Kommando eine strammere Haltung einnehmen, bis schließlich alle im Halbkreis vor uns standen, die Ältesten rechts von uns; ganz links aber stand ein Hüne in Uniformjacke und Kniehosen, der die Verantwortung für alle übernahm. Ich wußte, daß er der Hauptleidtragende war, der am schwersten Betroffene, auch wenn er, ähnlich wie Zorin bei seiner sterbenden Geliebten, mit grimmiger Miene jede Trauer von sich abzuweisen schien. Und ich wußte, so, wie es hier keine Begrüßung gab, würde es auch keine unziemlichen unmännlichen Trauerbekundungen geben; hier galt es, stoischen Gleichmut und Haltung und mystische Gemeinschaft und Rache zu zeigen, aber keine Weibertränen.
    TT hatte wieder gesprochen, und diesmal offenkundig ein Gebet, denn die anderen Männer schwiegen zwar, legten aber die gewölbten Hände wie Opferschalen zusammen, erhoben sie darbietend und senkten für etwa eine Minute die Augen, wobei sie die Lippen bewegten und ab und zu im Chor ein Amen murmelten. Nach dem Gebet machten sie die Gesten der rituellen Waschung, mit der ich inzwischen vertraut war: Es sah aus, als rieben sie sich das Gebet ins Gesicht und reinigten es damit für das nächste. Während ich ihnen zusah, bemerkte ich, daß meine Hände ihren Gesten folgten, teils aus einer Art spiritueller Höflichkeit heraus, teils, weil nicht nur die Landschaft, sondern auch diese Menschen mich so für sich eingenommen hatten, daß ich zwischen vertrauten und unvertrauten Gesten gar nicht mehr unterscheiden konnte.
    Rechts von mir sagte ein alter Mann etwas auf arabisch, das von jedem einzelnen wiederholt wurde, aber nicht als Worte, sondern als rasend schnelle Lippenbewegungen, die stets mit einem Amen endeten. Dann hörte ich dicht neben mir Issa, der in klarem Englisch und mit seiner gewöhnlichen Stimme zu mir sprach.
    »Sie preisen ihn als Märtyrer«, sagte er.
    »Wen?« flüsterte ich – aber warum sprach ich so leise, wo doch niemand sonst die Stimme senkte?
    »Bashir Haji«, antwortete er. »Sie bitten Gott, ihm zu vergeben, ihm gnädig zu sein und seinen gazavat zu segnen. Sie schwören Rache. Rache ist nicht Gottes Aufgabe, sondern unsere.«
    Ist Larry auch ein Märtyrer? fragte ich. Aber nicht laut.
    Tschetschejew sprach mit dem Hünen und durch den Hünen zu ihnen allen.
    »Er sagt, es liegt in Gottes Hand, ob wir leben oder sterben«, übersetzte Issa mit fester Stimme.
    Dann folgte wieder murmelndes Schweigen und noch eine rituelle Gesichtswaschung. Wer lebt? fragte ich flehend, aber auch diesmal nicht laut. Wer stirbt?
    »Was sagt er noch?« fragte ich, denn gerade hatte mich wie ein Messer das Wort Larry durchbohrt: Tschetschejew hatte es ausgesprochen, und alle anderen hatten es aufgenommen, von dem Hünen links bis zu den Ältesten und Ehrwürdigsten rechts. Und einige nickten mir zu, und andere schüttelten die Köpfe, und der Hüne starrte mich mit vorgeschobenen Lippen an.
    »Er sagt ihnen, daß Sie ein Freund von Larry, dem Engländer, sind«, übersetzte Issa.
    »Was noch?« flehte ich ihn an, denn der Hüne hatte etwas zu Tschetschejew gesagt, worauf die anderen wieder mehrmals amen gemurmelt hatten.
    »Sie sagen, daß Gott die Teuersten und die Besten zu sich nimmt«, antwortete Issa. »Männer und Frauen gleichermaßen.«
    »Also hat Gott Larry zu sich genommen?« schrie ich, aber meine Stimme war nicht lauter als die der anderen.
    Tschetschejew hatte sich umgedreht und sprach mich direkt an. In seinen zerfurchten Zügen sah ich Zorn und auch eine
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