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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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Waldstücke, die verstreuten Höfe und auch die Menschen, denen ich begegnet war.
    Ich trank gehorsam meinen Schnaps, wie der Doktor mir geraten hatte. Ich trank noch einen und einen dritten. Ich versuchte, meine Gedanken dazu zu bringen, sich schneller zu bewegen, aber sie kreisten unablässig um einen Punkt, um Ursula. Sobald ich nachdachte, brachte mir die Erinnerung ein paar Bilder: Ursula an der Theke des Gasthauses, schwarz, schlank, mit weißem Gesicht und den fragenden Blicken, Ursula am Fluß, an der Kapelle, auf dem Waldweg. Und das Bild blieb länger: Ursula, die ich über den Bach trug, federleicht, der Arm, der mit kaum bemerkbarem Druck meinen Hals umfaßt hielt.
    Zuneigung? Mitleid? Sympathie? Oder Neugier?
    Ich dachte an Hamburg, an mein Büro, an meine Mitarbeiter, an das Leben, das mich dort wieder erwarten würde.
    Sollte ich abfahren? Aber ich wußte plötzlich, daß mich nichts zurückzog, der Gedanke an mein Büro war mir fremd.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis der Doktor hereinkam.
    »Fertig«, sagte er, »wenigstens hier.«
    Er sah mich an: »Sind Sie auch fertig?«
    »Mit den Schnäpsen, Doktor«, sagte ich und ging mit ihm hinaus. Wir fuhren ab, und der Doktor sah mich von der Seite an.
    »Wozu haben Sie sich entschlossen?«
    »Ich werde heute abend hingehen.«
    »Wirklich?« sagte er, fast ein wenig überrascht.
    »Ich habe es ihr versprochen.«
    »Wenn es nur deswegen ist — «, begann er rauh und brach dann ab.

    Abends machte ich mich fertig. Ich zog einen dunklen Anzug an, ein weißes Hemd. Ich knöpfte die goldenen Manschettenknöpfe ein.
    Der Doktor betrat mein Zimmer.
    »Wollen Sie in die Oper?« sagte er und lächelte, wenn auch nur ganz schwach. Dann sah er mich ernst und eindringlich an.
    »Ich fahre hinüber, Doktor«, sagte ich.
    »Leichten Herzens?«
    »Nicht ganz, aber ziemlich«, lächelte ich. Er sah mir nachdenklich zu, wie ich meine Toilette vervollständigte.
    Er grinste: »Sie rochen schon fast etwas nach Kuhdung und Bauernhof, nun sind Sie wieder der Herr aus Hamburg.«
    »Erschreckt Sie das?«
    »Nein«, er schüttelte den Kopf, »Sie wissen, daß ich Sie mag.« Er legte mir leicht die Hand auf die Schulter, wandte sich gleich ab und ging hinaus.
    Ich fuhr langsam in den Abend hinaus. Die Luft war etwas kühler geworden, oder das Frieren kam aus mir selber. Die Einzelheiten des Landes verschwammen in der aufziehenden Dunkelheit.
    Als ich vor dem Hause Ursulas ankam, war es fast ganz dunkel. Aber die Einfahrt war erleuchtet, als habe jemand vorsorglich Licht angemacht.
    Ehe ich bei der Tür war, öffnete sie sich, und Ursulas Vater stand in der Tür. Er trug einen dunklen Anzug, streckte mir gleich die Hand entgegen, schüttelte meine Hand, faßte mit der anderen Hand nach und wollte meine Hand nicht loslassen.
    Es war mir fast unangenehm. Gott sei Dank sagte er nichts, er konnte wohl nichts sagen.
    In der Halle des Hauses kam Ursula auf mich zu. Sie trug ein dunkelrotes Kleid und war sorgfältig frisiert. Ihre Lippen waren geschminkt, und Puder gab ihr eine belebende Farbe. Sie verstand etwas davon und sah schön aus. Sie wollte schön aussehen.
    Sie lächelte mich an und sagte ruhig: »Sie sind pünktlich. Wir auch. Wir können gleich anfangen zu essen.«
    Sie führte mich in das Eßzimmer. Dort war für drei Personen gedeckt. Schweres Silber neben schlanken Sektkelchen. Kerzen brannten.
    Ursula hob von einem kleinen Tischchen ein Tablett.
    »Ein Aperitif?«
    Ich nahm mir ein Glas. Ebenso Ursulas Vater.
    »Das alles wirkt sehr feierlich«, sagte ich und versuchte den Bann zu durchbrechen.
    »Ja«, lachte Ursula, »aber so feierlich sollte es gar nicht sein.«
    Wir hoben die Gläser und tranken einander zu.
    Der Vater zeigte seine Erregung in einem gewissen Eifer beim Trinken, er verschluckte sich, und Ursula lachte ihn an. Nur ihre Augen lächelten nicht mit!
    Ich erkannte Angst darin.

10

    Später waren wir im Zimmer Ursulas.
    Ursula spielte mir Schallplatten vor. Sie hockte auf dem Teppich, die Beine angezogen, und hörte auf die Musik, abwesend, ganz verloren in Einsamkeit.
    Offenbar liebte sie Jazz, den traurigen, weichen Jazz.
    Ich hatte mir nie viel aus Jazz gemacht, aber es muß wohl wahr sein, daß man plötzlich Zugang zu solcher Musik findet, im Zusammenhang mit einer Situation, die schweigend eine Tür aufmacht, und man begreift, daß diese Musik den Gefühlen der Not und dem Elend des modernen Menschen entspricht.
    Solcher Jazz tröstet mehr und besser
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