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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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Bauernhöfen, vor kleinen Landgeschäften.
    Ich war in Abschiedsstimmung und sah seine Tätigkeit aus größerem Abstand heraus.
    Er war ein unermüdlicher Arbeiter. Sein Tagewerk war lang und ausgefüllt bis zur letzten Minute. Und nicht mit Kleinigkeiten, die mit der linken Hand zu machen sind. Jeder Fall ist neu, erfordert die ganze ärztliche Erfahrung, selbst wenn es wie ein kleiner Fall aussieht. Alle großen Fälle sind zunächst kleine. Oft bleiben sie kleine Fälle, unbedeutende, aber die Möglichkeit ist immer da, daß der Schmerz, der die Leute zwingt, den Arzt zu rufen, Vorbote einer schwierigen Sache, einer schweren Krankheit ist.
    Eine Frau hat Schmerzen im Unterbauch. Was kann es sein? Versetzte Blähungen oder Schlimmeres?
    Das ist die Verantwortung, die dem Arzt auferlegt ist. Sie erfordert seine ständige Wachsamkeit, seine Konzentration, auch wenn es nachts ist, auch wenn der Fall in einer Reihe von siebzehn anderen steht und wenn der Doktor müde ist, abgespannt. Er darf nicht unaufmerksam sein.
    Diese Verantwortung spüren sie manchmal wie eine große Angst, sie zwingt sie, nicht müde zu sein, Erschöpfungen zu bekämpfen. Ich sah den Doktor in Häuser hineingehen und wieder herauskommen. Er schwenkte seine Tasche, er wich den Pfützen aus und hatte immer noch ein Wort für seine Leute, die Kinder betreffend, den Hof, das Wetter.
    Ich bekam plötzlich großen Respekt vor ihm.
    Er schlug die Tür zu, fuhr weiter, dachte an seinen nächsten Patienten und sagte zwischendurch: »Wann fahren Sie?«
    »Morgen früh.«
    »Kommen Sie heute abend zu uns«, bat er mich, »bringen Sie Ursula mit.«
    Ich versprach es. Der Doktor setzte mich wieder bei meinem Wagen ab.
    Ich fuhr hinüber zu Ursula.
    Ihr Vater kam mir gleich über den Hof entgegen.
    Er drückte mir beide Hände und sagte: »Sie ist fröhlich. Ich habe sie lange nicht mehr so gesehen. Sie packt ihre Koffer und pfeift dabei.«
    Er ließ keinen Blick von mir, in einer unruhigen Frage, für die er keine Worte fand. Als wolle er wissen: Warum tust du das? Wirst du gut zu ihr sein?
    Er lächelte schwach: »Sie wird mein Haus verlassen. Vielleicht sehe ich sie nicht wieder.«
    »Sie können uns in Hamburg besuchen, so oft Sie wollen.«
    »Es bedeutet dennoch«, murmelte er, »daß ich sie vielleicht nicht wiedersehe.«
    Ich begriff ihn. Er hatte sich vorgenommen, seiner Tochter zu helfen, die letzten Monate durchzustehen. Er hatte sich vorbereitet darauf, mit seiner ganzen Liebe und Fürsorge. Und nun war ich gekommen, und ich würde Ursula mitnehmen. Wem übergab er sie eigentlich?
    Ich verstand, daß dies drängende Fragen für ihn sein mußten.
    Ich ging ins Haus.
    Ich fand Ursula auf der Couch sitzend. Sie sah ernst und nachdenklich ihre Koffer an, die schon gepackt waren.
    Sie hob das Gesicht, sah mich an.
    »Was überlegst du?«
    »Wie dir zumute sein muß«, sagte sie leise. »Ich packe meine Koffer und bin bereit, mit dir zu gehen. Wohin du willst. Ich habe nicht eine Sekunde nachgedacht«. Leiser fuhr sie fort: »Es ist schrecklich, wenn du nicht da bist. Ich fühlte mich plötzlich verlassen und so, als tue ich etwas ganz Unmögliches. Als ob ich träume.« Sie hob die Schultern. »Ich habe keinen Boden mehr unter den Füßen.«
    Ich zog sie an mich, aber sie schob mich etwas zurück, um mich ansehen zu können.
    »Weißt du, was du tust?« fragte sie plötzlich. »Antworte nicht«, setzte sie schnell hinzu, »wir hatten einen schönen Abend und eine wunderbare Nacht. Wir befanden uns beide in einer Stimmung, in der man leicht glaubt, Entschlüsse fassen zu können, die man für richtig und endgültig hält. Ich danke dir dafür — «
    »Aber...«, fragte ich.
    Sie löste sich von mir, ging ganz leise hinüber zur Couch und setzte sich wieder.
    »Man darf nicht zuviel verlangen«, lächelte sie ernsthaft, »ich sollte hierbleiben, ich sollte diese Koffer wieder auspacken.«
    Ich sah sie an und schwieg.
    »Du hast mich sehr glücklich gemacht, mehr als ich erwarten konnte, zu meiner eigenen großen Überraschung. Das reicht.«
    »Nein«, sagte ich langsam, »es reicht nicht. Du kannst die Koffer wieder auspacken, wenn du willst, aber dann bleibe ich hier.«
    Sie sah mich an, forschend, mit fast trauriger Aufmerksamkeit. »Es wird schlimmer werden mit mir«, sagte sie leise, »ich habe mich unterrichtet. Diese Krankheit ist eine Zerstörung, die von innen nach außen geht. Noch merkt man nichts, nicht viel.«
    »Komm«, sagte ich fast
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