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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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Ursula zu kümmern.«
    Ich atmete tief auf, so überrascht war ich. »Es liegt doch nahe«, meinte der Doktor, »er verzehrt sich in Sorge um seine Tochter. Er kann ihr nicht helfen. Deswegen bat er Sie, ihr zu helfen.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Geben Sie mir eine Zigarette«, bat der Doktor leise. Ich holte eine Zigarette heraus und gab sie ihm. Er steckte sie an und zog den Rauch tief ein.
    »Ich brauche so ein Ding manchmal«, lächelte er, »und manchmal schadet es wohl auch nichts.«
    Er fuhr jetzt langsam, als wolle er sich auf das konzentrieren, was er glaubte, mir sagen zu müssen.
    »Mögen Sie Ursula?« fragte er.
    »Ja.«
    »Sie überlegen also ernsthaft, ob Sie den Vorschlag ihres Vaters annehmen sollen?«
    »Es hat mit dem Vorschlag nichts zu tun«, sagte ich.
    »Sie mögen sie, und sie tut Ihnen leid.«
    »Ja.«
    »Mitleid also«, sagte der Doktor hart. »Hören Sie, Mitleid ist schlecht, und zwar aus einem einzigen Grunde, weil Mitleid als solches immer leicht zu erkennen ist. Und solches Mitleid macht jede Sache nur schlimmer.“
    »Es ist nicht nur das«, sagte ich und fühlte mich beunruhigt.
    »Zuneigung?« fragte der Doktor und fuhr fort: »Es muß mehr sein als Mitleid und Zuneigung, wenn Sie ihr helfen wollen, denn — was sie braucht, ist Liebe.«
    Er schwieg, als sei es ihm fast zu schwer, Worte zu finden.
    »Ich kenne Ursula seit langem, Sie wissen das. Ich kenne sie genauer, als sie sich selbst kennt und bestimmt genauer, als ihr Vater sie kennt. Ursula ist keine einfache Frau, die sich mit Gefühlsalmosen zufriedengibt, sie will alles, um alles geben zu können. Alles geben, und Sie wissen nicht, was das heißt, wenn sie alles gibt. Das hat nie jemand gewußt, vielleicht geahnt. Und die es geahnt haben, sind ihr aus dem Wege gegangen, weil niemand sich stark genug fühlte, das zu tragen, was sie nämlich zu geben hat.«
    Er lachte auf. »Mit Mitleid kann sie niemand betrügen.«
    »Ja«, murmelte ich.
    »Reisen Sie morgen ab«, sagte er, »das wäre barmherziger.«
    Wir hielten vor einem Hause, der Doktor nahm seine Tasche. Ich blieb im Wagen und dachte nach.
    Der Doktor kam wieder aus dem Hause, begleitet von einer jüngeren Frau, die einen verstörten Eindruck machte.
    »Sie irren sich bestimmt nicht, Herr Doktor?« fragte sie.
    »Nein. Wir haben den Krankenwagen bestellt, und die Ärzte in der Klinik werden dasselbe feststellen.«
    »Bei einem so kleinen Kind?«
    »Auch so kleine Kinder haben einen Blinddarm«, lächelte der Doktor, »es ist nichts, um Angst zu haben.«
    »Ja«, murmelte die Frau.
    Der Doktor setzte sich in den Wagen und fuhr ab.
    »Das habe ich auch noch nicht erlebt«, sagte er, »bei einem neun Monate alten Kind eine Blinddarmentzündung.«
    »Kann man das überhaupt feststellen?«
    »Ja«, sagte der Doktor, »auch kleine Kinder spüren Schmerz. Sie können zwar nicht reden, aber man merkt es an den Pupillen. Man drückt ihnen den Bauch, und die Pupillen verengen sich.« Er lachte. »Wissen Sie, was jetzt passiert? Die im Krankenhaus werden den Kopf schütteln. Aber hoffentlich werden sie operieren, um sich zu überzeugen.«
    Der Fall schien ihm seine gute Laune wiederzugeben. Er fühlte sich sicher in seinen Erfahrungen, die ihm ein Gefühl von Überlegenheit gaben.
    Und die Tour ging weiter.
    Ein Bauer hielt uns auf der Straße an. Er stellte sich mitten in den Weg, weil er den Wagen des Doktors erkannt hatte.
    »Doktor«, sagte der Bauer unglücklich, »ich habe einen Zahn, der mir weh tut. Er tut mir seit Wochen weh, und ich denke immer, er geht von selber raus.«
    »Nee«, lachte der Doktor, »von selber gehen die nicht raus. Zeig mal.«
    Der Bauer öffnete den Mund und zeigte eine Ansammlung erschreckender Zähne.
    »Du hast ein ziemlich morsches Gebiß«, sagte der Doktor beeindruckt, »aber selbst solche Zähne fallen nicht von selber raus. Geh zum Zahnarzt.«
    »Nee, Doktor«, sagte der Bauer.
    »Ich kann dir die Zähne nicht rausnehmen«, grinste der Doktor, »davon verstehe ich nichts.«
    »Ich geh’ nicht zum Zahnarzt«, wiederholte der Bauer verdrossen.
    »Aber warum nicht?« wunderte sich der Doktor.
    »Ich mag den Kerl nicht«, murmelte der Bauer.
    »Du mußt ihn nicht mögen, aber er ist der einzige, der dir helfen kann.«
    »Hm«, sagte der Bauer, »Sie können das nicht?«
    »Nein«, lachte der Doktor vergnügt, »ich hab’s nicht gelernt.«
    »Oder wollen Sie bloß nicht?« Der Bauer sah den Doktor mißtrauisch an.
    »Was hat dir der Zahnarzt
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