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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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als Vater und Mutter. Die Platten lagen im Zimmer verstreut, die Hüllen leuchteten in allen Farben, Gesichter, Münder, Hände — diese großen Details, im kühnen abstrakten Hinwurf , der in Einzelheiten zerlegte Mensch, oft brandrot, als brenne alles.
    Auch Ursula brannte wohl. Sie brannte ab. Mit zugedeckter Qual, und ich begriff den Fortschritt der Menschheit, die eins gelernt hat: Qual nicht zu zeigen. Wie hat man sie früher dargestellt! Ganze Kunstgattungen lebten davon, den Schmerz zu zeigen, in immer neuer Tablettierung. Der moderne Mensch neigt zum Schweigen. Er gestattet gerade noch der Musik, das große Pendant zu sein. Ich setzte mich zu Ursula auf den Boden, und ich legte meinen Arm um ihre Schulter.
    Sie wandte ganz langsam den Kopf und sah mich an. Irgendein Widerstand brach in ihr zusammen. Sie hob die andere Hand, schob sie um meinen Hals, immer den Blick auf mich gerichtet, in qualvoll geschärfter Aufmerksamkeit, und dann zitterte sie einfach, als entlasse sie jede Faser ihres Körpers aus der Beherrschtheit, ihr Griff wurde fester, ein einziger würgender Muskelreflex, sie umarmte mich mit tierischer Kraft und zog mich auf den Boden, die dunklen Augen noch dunkler, und küßte mich und weinte und küßte mich.
    »Danke«, sagte sie dann plötzlich, mit einer Spur von verzweifeltem Spott im Blick.
    Ich wußte, daß eine Entscheidung gefallen war und sagte nichts, ich konnte einfach nicht. Ich verspürte eine unendliche Erleichterung.
    Später sagte sie, regungslos liegend, mit leiser Stimme: »Was ist das? Sag es.«
    Und ich antwortete: »Es gibt wahrscheinlich viele Sorten von Liebe, einfache und komplizierte, primitive und erhabene.«
    »Mit welcher Art haben wir es zu tun?« wollte sie wissen und ließ die Hand nicht von meinem Hals.
    »Gewöhnlich reagiert ein Mann auf das Äußere einer Frau. Es ist der primitive Beginn. Ihm gefällt, daß sie hübsch ist, und er beteiligt sich am Wettkampf um die Begehrte. Er ist stolz, wenn es ihm gelingt, sie zu bekommen. Aber damit ist auch etwas zu Ende. Die Spannung läßt nach, und wahrscheinlich auch das, was er unter Liebe verstand.«
    »Diese ist es nicht«, sagte sie und hatte die Stimme fragend erhoben.
    »Die ist es sicher nicht«, antwortete ich ehrlich.
    »Sicher nicht«, wiederholte sie ernsthaft.
    »Dann gibt es die, die alles unwichtig macht, das Äußere, das Bedürfnis, männlichen Stolz zu befriedigen — vom Weltgeheimnis wird das Zudeckende abgehoben, Schale um Schale, und wer so umarmt, umarmt sein Schicksal.«
    Sie hob fast mit Anstrengung den Kopf und sah mich lange an.
    »Ist es das?« flüsterte sie.
    »Es muß wohl so sein«, sagte ich. Ich hatte ausgesprochen, was ich empfand.
    »Es könnte so sein«, murmelte sie und lächelte, »denn das Äußere ist es wohl nicht. Ich bin mager wie ein Wildkaninchen, Haut und Knochen. Es ist nichts an mir, nicht einmal — Gesundheit.«
    »Aber alles andere«, erwiderte ich.
    Ich begriff die einmalige Situation, und wenn mir etwas unbehaglich war, dann der Zwang, mit Worten vorsichtig zu sein. Aber sie war mutiger als ich.
    »Wir können offen über alles reden«, sagte sie, »ich werde nicht mehr viel Zeit haben.«
    »Wir werden nicht daran denken.«
    »Natürlich werden wir daran denken. Du wirst daran denken, und ich auch. Wir werden immer daran denken. Das Denken daran wird uns begleiten, jede Minute, jeden Tag.« Sie setzte leise hinzu: »Ich habe mich daran gewöhnt.«
    Sie sah mich unverwandt an: »Aber es ist das erste Mal, daß es mir leichter fällt. Es wiegt fast nichts mehr.«
    Sie wurde fröhlich. Sie setzte sich aufrecht hin. Ihr Gesicht belebte sich etwas, überzog sich mit einem Schimmer von Farbe. Sie wollte alles mögliche wissen.
    »Ich weiß nicht einmal, wer du bist«, lächelte sie.
    Ich erzählte, daß ich aus Hamburg gekommen war, daß ich plötzlich gestorben war.
    »Gestorben?« fragte sie.
    »So gut wie«, sagte ich. »Ich mochte das Leben nicht mehr. Nicht mehr meine Art zu leben, und wahrscheinlich auch nicht mehr die allgemeine Art zu leben.«
    Ich erzählte ihr, daß ich eine große, gutgehende Firma besaß, ein Haus an der Elbe, und ich sagte ihr auch, was mir mein Teilhaber gesagt hatte, als ich meinen Koffer packte und verreisen wollte. Er hatte mich besorgt angesehen und gesagt: »Du hast fünfzehn Jahre lang gearbeitet, du bist ganz oben und fühlst dich nun nicht mehr ausgefüllt.«
    Ich hatte ihm zugehört und gewußt, daß es nur halb wahr sein konnte,
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