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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand
Autoren: Gioconda Belli
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früher, nicht diesen leichten, von Geräuschen unterbrochenen Schlaf, bei denen sie nicht mehr zu entscheiden vermochte, ob sie wirklich oder eingebildet waren. Sie sah, wie sich Kain Abel näherte und die beiden miteinander sprachen. Und musste sich abwenden, um ihre Tränen der Erleichterung zu verbergen.
     
    Am folgenden Morgen zogen die Brüder gemeinsam aus. Eva sah sie friedlich gestimmt aufbrechen. Über den frisch gezogenen Graben gebeugt, mit dem er das Flusswasser umleiten wollte, damit sie nicht mehr so weit gehen mussten, wenn sie Durst hatten, wandte sich Adam mit einem Lächeln nach seiner Frau um.
     
    Der Tag verging schwerelos und klar. Als es zu dämmern begann, bemalte Eva Gefäße, Aklia schärfte Angelhaken und Adam stellte den Kanal für ihre Wasserzufuhr fertig. Ein Rascheln im Laub und hastige Schritte ließen sie die Köpfe heben.
    Luluwa erschien atemlos aus dem Gebüsch.
    Was war in Luluwas Augen zu lesen? Was hatte sie so bestürzt? Eva sprang voller Angst auf die Füße.
    »Was ist passiert?«, fragte sie.
    Luluwa öffnete den Mund. Aber es kam kein Laut.
    »Was ist passiert?«, wiederholte die Mutter.
    Adam und Aklia legten die Arbeit nieder.
    »Kain hat Abel geschlagen. Abel sagt nichts mehr. Er liegt auf dem Boden, die Augen offen.«
    Dann löste sich Luluwas Zunge, und sie erzählte, dass sie am frühen Nachmittag beim Korbflechten plötzlich gemerkt habe, dass es zwecklos war, ihre Hände und ihre Gedanken in den gleichen Rhythmus zu bringen. Lieber wollte sie sich auf die Suche nach Kain und Abel machen. Voller Sorge und ohne Bescheid zu geben, war sie aufgebrochen, weil ihr der Kopf surrte wie von einem Schwarm Insekten und in ihrer Brust lauter verirrte Vögel mit den Flügeln schlugen.
    Auf ihren flinken Beinen hatte sie die Weizenpflanzung rasch erreicht. Sie fragte sich, wo Kain seinen Bruder Abel wohl hingeführt hatte, weil sie die beiden dort nicht fand, und auch nicht flussaufwärts, wo die Pilze wuchsen, oder dort, wo die Kürbisse ihre gelben Köpfe auf die Erde legten. Da fiel ihr die alte Höhle ein, die Feigen, die Birnbäume. Keuchend lief sie dorthin. Unterwegs erschreckte sie die Affen in den Bäumen und scheuchte die Wildschweine auf. Dornen zerkratzten ihr die Haut, während sie vorwärtseilte.
    Als sie den kleinen Birnenhain erreichte, nahm sie Kains Geruch wahr. Er war hier gewesen. Sie nahm seine Witterung auf, umkreiste den einsamen Berg und stieg auf einen Felsvorsprung, um nach den Brüdern Ausschau zu halten. Da erspähte sie eine Silhouette auf einer Anhöhe. Sie rannte in die Richtung und rief Kain zu, nicht weiterzugehen, sondern auf sie zu warten.
    Als sie ihn erreicht hatte, beugte sie sich außer Atem vornüber, damit das Seitenstechen vom Laufen nachließ.
    »Ich dachte erst, Abel würde auf der Erde liegen und schlafen und dass Kain seinen Schlaf bewachte. Aber dann hörte ich Kain wimmern. Ich sah ihn mit dem Kopf zwischen den Knien dasitzen. Die Hände im Nacken verschränkt, wiegte er sich vor und zurück. Als er mich kommen sah, heulte er laut auf. Er brach in Tränen aus. Was ist mit Abel, Kain?
    Und er sagte zu mir: Er ist tot, Luluwa, ich habe ihn getötet.«
     
    Er ist tot, Luluwa, ich habe ihn getötet. Er ist tot, Luluwa, ich habe ihn getötet. Er ist tot, Luluwa, ich habe ihn getötet.
Als Eva den Satz vernahm, lösten sich alle Wörter der Welt in Luft auf, bis auf diese. Sie wollte denken, aber
er ist tot, Luluwa, ich habe ihn getötet;
sie wollte sprechen, aber
er ist tot, Luluwa, ich habe ihn getötet
. Und es war, als sähe sie jene Worte, als sähe sie das von Luluwa beschriebene Bild vor sich: Abel auf dem Boden und Kain, der immer und immer wieder diesen Satz sagte.
     

    Der Brudermord (02:49)
     
    Luluwa setzte ihren Bericht fort.
    »Hast du ihn getötet?, habe ich ihn gefragt, ohne zu verstehen. Noch nie haben wir einen von uns sterben sehen, habe ich gedacht. Kain muss sich irren, habe ich gedacht. Dann habe ich mich auf die Erde gekniet, neben Abel, und ihn gerufen. Ich habe das Blut unter seinem Kopf gesehen. Ein roter Kranz. Ich habe gesehen, dass Abel in den Himmel starrte. Ich habe ihn geschüttelt. Ich habe ihn angefleht, aufzuwachen. Aber er war kalt, er war so eiskalt wie das Wasser im Fluss. Er wacht nicht auf, hat Kain zu mir gesagt. Er hat gesagt, er hätte schon alles versucht. Er hat gesagt, dass kein Laut mehr in ihm zu hören sei. Er schrie, dass er ihn getötet hätte. Und er hat ihn wirklich getötet«,
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