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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand
Autoren: Gioconda Belli
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ihn zu umarmen, leg ihn mir in die Arme.«
    Adam half ihr. Sie wiegte ihren Sohn in den Armen. Sie schaukelte ihn. Für diesen Schmerz würden ihre Tränen nicht ausreichen, dachte sie, indes ihr die Tränen über die Wangen liefen und auf ihre Brüste tropften. Sie presste Abel an sich. Wo ist dein Leben, Abel? Warum rührst du dich nicht?
    Er war so schwer, so verlassen. Sie berührte seinen Kopf. Die Wunde am Schädel. Sie blutete nicht mehr. Dann spürte sie einen Hohlraum in ihrem Bauch, sie empfand das Loch, das ihr Sohn riss, wie eine Entäußerung ihrer selbst. In ihr war nur noch Wasser. Das Wasser erstickte sie fast, bis sich aus ihrer Brust ein tiefer Klagelaut löste und sie dem Schmerz in sich Raum gab, nie wieder, niemals mehr Abel lebend zu sehen. Nie mehr.
     
    Sie sah Aklia Sprünge machen, Luluwa jammern.
    »Wo ist Kain?«, fragte sie. »Wo ist mein Sohn Kain?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Luluwa. »Ich weiß nicht.«
    »Geh ihn suchen, Luluwa. Geh ihn suchen, damit er uns hilft, Abel in die Höhle zu tragen. Wir können ihn nicht hier liegen lassen.«
     
    Die Nacht brach an. Adam machte Feuer. Eins zu jeder Seite von Abels Körper. Adam und Eva wachten unter dem dunklen Sternenhimmel bei ihrem Sohn.
    Aklia war eingeschlafen.
    »Ich erinnere mich noch daran, wie mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass ich bin«, sagte Adam. »Ich erinnere mich daran und denke, dass es besser gewesen wäre, nie zu existieren.«
    »Ich erinnere mich, wie ich die Frucht vom Baum gegessen habe. Ich hätte sie nicht essen dürfen.«
    »Dann wäre Abel nicht gestorben. Mit dir, Eva, hat alles begonnen«, sagte er und hob den Blick. Er sah sie voller Groll und voller Schmerz an.
    »Ohne mich hätte es Abel gar nicht gegeben«, gab sie zurück. »Wir hätten uns nie geliebt. Das Leben, das sein sollte, hat mit mir begonnen. Ich habe nur meine Bestimmung erfüllt.«
    »Und der Tod hat begonnen.«
    »Ich habe Leben gegeben, Adam. Du warst es, der angefangen hat zu töten.«
    »Damit wir überleben.«
    »Ich gebe dir nicht die Schuld, aber als wir akzeptiert haben, zu töten, um zu überleben, haben wir zugestimmt, dass sich unser Gewissen nach unseren Bedürfnissen richtet, wir haben der Grausamkeit zugestimmt. Und jetzt siehst du, wie sich die Grausamkeit in unserem Leben einnistet.«
    »Das war unumgänglich. Genauso unumgänglich wie die Tatsache, dass du die Frucht isst.«
    »Wenn Elohim uns nicht genötigt hätte, die Zwillinge miteinander zu kreuzen, dann wäre das vielleicht gar nicht passiert.«
    »Wozu hat er uns geschaffen, Eva? Ich glaube, ich kann nicht noch mehr Leid ertragen als das, was wir schon durchgemacht haben.«
    »Die Schlange hat gesagt, dass Elohim uns erschaffen hat, um zu sehen, ob wir und die unseren imstande sind, an den Ausgangspunkt zurückzukehren und das Paradies wiederzuerlangen.«
    »Sind wir vielleicht nicht der Ausgangspunkt?«
    »So wie sie es mir erklärt hat, waren wir im Garten ein Abbild dessen, was Elohim gerne am Ende seiner Schöpfung sehen würde. Als wir die Feige gegessen haben, hat er die Zeit umgedreht. Um jetzt zum Ausgangspunkt zurückzugelangen, müssten unsere Kinder und Kindeskinder, die Generationen, die auf uns folgen, von vorn beginnen und den ganzen Weg rückwärtsgehen. Das hat sie gesagt.«
    »Und bis wohin müssen wir rückwärtsgehen?«
    »Ich weiß es nicht, Adam. Ich glaube, dass wir als Rudel enden werden. Vielleicht ist Aklia ja die Zukunft. Vielleicht kommt sie dir deshalb seltsam vor. Vielleicht ist so die Vergangenheit, die wir nie kennengelernt haben.«
    »Aklia, so unschuldig.«
    »Und so wesentlich.«
    »Aber sie würde auch töten müssen.«
    »Kain hat getötet.«
    Eva schwieg stille.
    »Mir tut der eine Sohn genauso weh wie der andere«, sagte sie schließlich.
    »Denkst du nicht, dass wir ihn bestrafen müssen?«
    »Bestrafen? Du kannst sicher sein, dass keine unserer Strafen härter sein könnte als die, die er sich selbst auferlegt hat. Er wird mit Luluwa fortziehen. Das spüre ich. Ich glaube, genauso wie du und ich sind auch sie bereits ungehorsam gewesen.«

Kapitel 30
    D er Morgen graute schon, als Kain mit Luluwa zurückkehrte. Er warf sich vor Adam und Eva auf die Knie.
    »Ich habe Abel niemals töten wollen«, stöhnte er. »Ich wusste nicht, wie schwer meine Hand ist.«
    »Steh auf«, sagte Eva.
    Kain kam auf die Füße. Eva sah die tiefe Einkerbung auf seiner Stirn. Zinnoberrot. Das rohe Fleisch. Verbrannt.
    »Wer hat dich
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