Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand
Autoren: Gioconda Belli
Vom Netzwerk:
schluchzte Luluwa, »er hat ihn wirklich getötet. Es stimmt. Ich habe es selbst gesehen. Er ist tot. Er rührt sich nicht. Er redet nicht. Er starrt in die Luft. Und er ist kalt. Kain hat ihn getötet. Kain hat ihn getötet! Er wollte das nicht, aber er hat es getan. Der ärmste Kain! Was soll jetzt aus uns werden? Wo ist Abel? Wo ist der Tod? Was können wir tun, damit er zurückkommt?«
     
    Von ihnen war noch nie einer gestorben, dachte Eva. Sie konnten nicht sterben, dachte Adam.
    Eva entsann sich der Schlange. Es sei nicht leicht zu sterben, hatte sie gesagt. Elohim würde das nicht zulassen, sagte sich Adam. Eva und er hatten sich vor langer Zeit von den Bergklippen gestürzt, um zu sterben, und waren ohne einen Kratzer im Fluss wieder zu sich gekommen.
     
    »Komm, Luluwa, bring uns zu deinen Brüdern.«

Kapitel 29
    A lle vier rannten sie los, ohne ein einziges Mal anzuhalten. Sie rannten durch die Herbstlandschaft.
    Es dunkelte schon. Am Himmel glühten die Wolken im roten Licht der Dämmerung, und die dunkle, feindliche Erde hallte unter dem rhythmischen Lärm ihrer Füße wider.
    Ein Rudel. Ein verschrecktes Rudel. Als es vorüberlief, flatterten die Vögel auf. Die Tiere witterten Angst. Keines näherte sich.
     
    Er ist tot, Luluwa, ich habe ihn getötet
. Sie hätte die Worte am liebsten ausgelöscht, aber sie dröhnten unaufhörlich in ihrem Innern wie ihre acht Fersen auf dem Pfad. Und wenn es stimmte? Und wenn Kain Abel wirklich getötet hatte? Sie waren alle imstande zu töten. Sogar sie. Die Fische starben in ihren Körben. Sie schlugen wie wild mit den Schwänzen, wenn sie kein Wasser hatten.
    Aber einen von ihnen zu töten? Wie konnte Kain denn seine Kraft so unterschätzen? Luluwa hatte erzählt, Kain habe ihn mit einem Stein erschlagen. So tötete Adam die Hasen. Und so war er nach seiner Schilderung mit der Bärin fertig geworden, die seinen Hund gerissen hatte. Was hatte Adam nur angerichtet, was hatte sie selbst angerichtet, als sie das erste Geschöpf getötet hatte? Welche gewaltsamen Kräfte entwickelten sie, um zu überleben, um zu essen? Und warum hatte Elohim das alles so eingerichtet?
    Wusste er überhaupt, was er da getan hatte? Oder tat er alles mit derselben Selbstvergessenheit, wie er Himmel und Blumen malte und die bunten Schwingen der Vögel zusammenstellte? Dachte er überhaupt nach? Wenn er nicht lebte so wie sie, wie konnte er da ihr Leben bestimmen, bestimmen, was sein durfte und was nicht?
     
    Luluwa zeigte auf die Anhöhe. Aklia ächzte, stolperte. Eva sah, wie sie auf alle viere ging, um schneller voranzukommen.
    »Sei vorsichtig mit deinen Händen, Aklia.«
    Als Antwort warf Aklia ihr einen Blick aus ihren unendlich sanften Augen zu. Sie sprach kein Wort. Von ihr kam nur ein trauriger, kehliger Laut.
     
    Adam sah Abels Körper auf der Erde liegen. Er hatte zu viele Tiere getötet, um die Anzeichen nicht zu erkennen. Dennoch lief er hin und berührte ihn. Er vergrub als Erster seinen Kopf an Abels Brust. Sein Schluchzen war heiser, unhaltbar. Die Luft füllte sich mit seiner Klage. Wie ein Ruf, wie das Eingeständnis seines Scheiterns.
     
    Eva ging vorsichtig näher. Ihr zitterten die Knie. Sie erinnerte sich an die Empfindung, Abel in ihrem Bauch getragen zu haben. An die Schmiere und das Blut an seinem neugeborenen Körper. Ihre Blicke verweilten an den Fußsohlen des jungen Mannes. Sie waren gegerbt. Glatt, groß. Die Fußzehen. Die winzigen Füßchen ihrer Kinder. Die hatten sie am meisten entzückt, als sie auf die Welt kamen. Ihre Füße und die klitzekleinen Ohren mit den gewölbten Ohrläppchen wie kleine Schnecken. Sie ging noch näher heran. Sie sah seine starren Augen. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter, legte die Finger auf seine Lider und schloss sie. Sie tat es, ohne nachzudenken. Das Wissen von Gut und Böse.
    Der schöne Abel. Schlafend. Sie strich ihm mit der Hand über die Stirn. Seine Haut, kalt. Langsam sickerte die Trauer in sie ein, als füllte sich ihr ganzes Sein mit Wasser, bis sie keine Luft mehr bekam. Sie setzte sich auf Kopfhöhe neben ihn. Sie liebkoste ihn. Sie wollte ihn umarmen, ihn an die Brust drücken, ihn ganz fest an sich drücken, ihn trösten. Wie schrecklich allein er jetzt war!, dachte sie. Noch einsamer als sie in ihrer Einsamkeit.
    Adam weinte. Sein Schluchzen schien von einem Ort zu kommen, der nicht in ihm war, sondern in der Erde selbst. Sie hob Abels Kopf und legte ihn sich in den Schoß.
    »Hilf mir, Adam, hilf mir,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher