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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand
Autoren: Gioconda Belli
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sondern schilderte auch den Wortwechsel zwischen den Brüdern. Sie machte Kain Vorwürfe. Auf diese Art könne er Elohims Gunst jedenfalls nicht gewinnen, gab sie ihm zu verstehen. Kains Augen funkelten im Dunkeln. Uneinnehmbar. Er saß stumm da und ließ zu, dass Abel gefeiert und er getadelt wurde. Aklia beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sie näherte sich ihm und wollte seine Hand nehmen. Doch er versetzte ihr einen Stoß, der für niemanden schmerzhafter war als für sie selbst.
     
    In jener Nacht schlief Kain nicht. Er strich im Mondlicht um die Höhle herum. Als Eva einen Blick nach draußen warf, sah sie seine gebeugte Gestalt wütend ausschreiten. Voller Sorge kehrte sie an Adams Seite zurück, konnte aber keinen Schlaf mehr finden.
     
    Tags darauf ging Kain mit Aklia aufs Feld hinaus. Adam dachte, er habe sich sicher wieder beruhigt. Luluwa dagegen war in Unruhe, bis die beiden zurückkamen. Eva vermochte den Tumult in ihrem Herzen nicht zum Schweigen zu bringen. Das muss der Herbst sein, dachte sie, der Anblick des langsamen Sterbens: Die Bäume werfen ihr Laub ab, die Nächte werden kälter, die Eulen schreien, und ich höre Schritte rascheln, die nur in meiner Vorstellung existieren. Die Welt war angespannt, geduckt und erinnerte sie an den Moment, in dem plötzlich alles stillstand, nachdem sie die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hatte.
     
    Die Mutter wiegte Aklia im Arm.
    »Kain mag mich nicht«, sagte diese. »Weder Kain noch Abel, noch Luluwa, noch mein Vater. Was bin ich, Mutter? Was ist meine Bestimmung? Wenn ich die Affenhorden sehe, habe ich oft Lust, mit ihnen zu ziehen. Ich sehe aus wie sie. Sie würden mich annehmen.«
    »Du bist keine von ihnen, Aklia.«
    »Ich würde mich aber bei ihnen wohler fühlen. Niemand würde mich ablehnen.«
    »Was weißt du, mein Kind?«
    »Ich weiß, dass Kain sich nicht mit mir paaren wird. Was weißt du, Mutter?«
    »Dass du keine Äffin bist.«
    »Was würde es schon ausmachen, wenn ich eine wäre? Wenigstens wüsste ich dann, was ich bin.«
    »Aber du kannst denken.«
    »Woher willst du wissen, dass sie nicht denken können?«
    »Sie überleben nur. Sie sprechen nicht.«
    »Und, ist das etwa schlechter?«
    »Keine Ahnung, Aklia. Manchmal weiß ich selbst nicht, was gut ist und was schlecht. Beruhige dich, mein Kind, und schlaf jetzt ein.«
    Eva dachte lange über Aklias Worte nach. Als sie das schlafende Gesicht der Tochter betrachtete, musste sie an den Affen denken, der sie in der bewaldeten Senke aufgefordert hatte, mit auf den Baum zu kommen, und ihr dann den Weg zurück zur Höhle gezeigt hatte. Sie presste die Tochter an sich. Sie weinte lautlos. Aklias Haar wurde von den mütterlichen Tränen durchtränkt.

Kapitel 28
    I soliert von den anderen widmete sich Kain seinen Pflanzen. Er erntete Linsen und Weizen; er bearbeitete die Erde für den Anbau im Frühjahr. Zu den ungelegensten Zeiten kehrte er in die Höhle zurück. Er beobachtete Luluwa und Abel. Er weigerte sich, das Wort an Aklia zu richten.
     
    Adam kämpfte dagegen an, in der Traurigkeit zu versinken, die sie alle bedrohte. Sie hatten bis zu diesem Tag überlebt und lebten immer noch. Wenn seine Kinder es nicht taten, würde er sich mit Eva fortpflanzen. Kain würde mit der Zeit seine Rastlosigkeit verlieren. Wenn Kains Mutter und Vater den Verlust des Paradieses überstanden hatten, dann würde auch Kain das überstehen. Jetzt galt es abzuwarten. Die Zeit vergeht und nimmt unangemessenes Verhalten mit sich fort; man akzeptierte, was man nicht ändern konnte. Eva hatte Ringe unter den Augen. Sie schlief wenig.
     
    Die Jagdsaison setzte ein. Der Winter näherte sich, und sie mussten sich auf die kalten, finsteren Nächte vorbereiten, auf die erstarrte Erde und die nackten Bäume. Abel und Adam zogen wie immer gemeinsam los. Aklia, Luluwa und Eva sammelten indessen Pilze und Kräuter und fingen Fische.
    Die Nächte waren angespannt, voller Geräusche und Fußgetrappel. Eva schloss die Augen fest zu und weigerte sich nachzusehen, wer draußen unterwegs war. Sie nötigte Adam, liegenzubleiben. Einmal glaubte sie gegen Morgen auf der anderen Seite des Stegs eine Affenhorde zu hören. Sie setzte sich auf und suchte mit den Augen Aklia. Sie fand sie nicht, aber tags darauf war sie wie immer bei ihnen. Es war ein Traum, sagte sie sich.
     
    Dann kam der Tag, an dem Kain aus seinem Rückzug erwachte. Eva dachte, jetzt könne sie vielleicht wieder so ruhig schlafen wie
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