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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand
Autoren: Gioconda Belli
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einsamer Berg aufragte.
    Kain beeilte sich. Der Bruder war ihm ein Stück voraus, weil er sich früher als er auf den Weg gemacht hatte. Aber er kannte Abel und wusste, dass es dauern würde, bis er unter den Schafen seiner Herde ein Opfertier ausgewählt hatte. Kain ging zu seinem Acker, wo er Kürbisse gesät hatte. Rasch schnitt er die erstbesten ab, legte einen Bund Ähren dazu und einen Zweig Trauben. All das tat er hastig, und als er die Opferstätte erreichte, sah er Abel und Luluwa gerade eintreffen. Sein Bruder trug das Opferlamm auf der Schulter. Zweifellos sein bestes Tier. Es war dick und prächtig, und das Blut aus der aufgeschlitzten Kehle lief Abel über Nacken und Brust.
     
    Kain trat als Erster vor Adams Altar. Er legte seine Opfergaben darauf. Dann kam Abel.
    Er wollte das Lamm neben die Gaben des Bruders legen, als ihm dieser den Weg versperrte.
    »Tut mir leid, Abel. Du wirst dir für dein Opfer einen anderen Platz suchen müssen.«
    »Ich dachte, wir würden zusammen opfern.«
    »Da hast du dich eben geirrt.«
    »Aber es ist noch genug Platz da.«
    Kain stieß ihn weg. Er spannte seine rechte Flanke und stürmte gegen ihn an, so dass der Bruder das Gleichgewicht verlor.
    »Kain!«, rief Luluwa.
    »Halt den Mund!«, schnauzte Kain zurück.
    Abel musterte den Bruder mit ungläubiger Miene, dann suchte er sich in einiger Entfernung eine andere Stelle und begann dort, die Steine für einen eigenen Altar aufzuschichten. Die brüsken Bewegungen verrieten seine Verwirrung und sein Unbehagen.
    Kain beobachtete Abel aus den Augenwinkeln. Luluwa saß vornübergebeugt auf einem Stein, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wippte nervös mit dem Fuß, während sie Linien auf die Erde malte.
    Wenig später war Abel mit seinem improvisierten Altar fertig und legte das Lamm darauf. Dann ging er auf die Knie. Er verharrte reglos mit geschlossenen Augen.
    Auch Kain warf sich auf die Knie. Er hörte sein Herz bis in Arme und Beine pochen, so stark war seine Erregung. Der Zorn füllte ihn ganz aus und hinderte ihn daran, zu denken, geschweige denn zu beten.
    Der düstere Himmel kündete von einem Regenschauer. Luluwa sah zu den unheilvollen Gewitterwolken am Horizont auf. Sie spürte den einsetzenden Wind und sah ihn in die Bäume fahren.
    Die aufzuckende Helligkeit eines Blitzes ließ sie für Momente erblinden. Sie roch verbranntes Fleisch. Er war genau in Abels Lamm eingeschlagen und verzehrte es.
    Auf Abels Opfertisch waren nur noch die Umrisse des Lamms und ein Häufchen schwarzer Asche zu sehen.
    Abel warf Kain einen Blick zu. Er lächelte glückselig.
    »Gelobt sei Elohim«, rief er laut aus und warf sich nieder.
     
    Verflucht seist du, Elohim, dachte Kain, verflucht seist du. Auch du hast meinen Bruder lieber als mich, genauso wie mein Vater.
    Er hatte noch nie Elohims Stimme vernommen. Als er sie jetzt plötzlich in seinem Kopf dröhnen hörte, ergriff ihn ein Zittern. Er hörte die Frage ganz deutlich: Warum verfluchst du mich, Kain? Warum bist du traurig? Auch dein Opfer werde ich annehmen, wenn du es ernst meinst und aufrichtig bist. Wenn du mich beschimpfst, dann beschimpfst du dich selbst.
    Voller Reue und Scham rannte Kain davon. Er blieb kein einziges Mal stehen, bis er bei Eva ankam. Dann warf er sich an ihre Brust wie früher, als er ein kleiner Junge war.
     
    »Die Stimme hat zu mir gesprochen. Die Stimme hat zu mir gesprochen«, wiederholte er. »Ich habe sie gehört, Mutter, ich habe sie gehört.«
    Eva wiegte ihn in ihren Armen. Sie beruhigte ihn. Kains Verwirrung schnitt ihr ins Herz. Jedes ihrer Kinder hatte zu irgendeinem Zeitpunkt Elohims Stimme zu hören geglaubt. Jedes bis auf Kain. Jetzt, da er sie vernommen hatte, fühlte auch er sich, trotz des Schreckens, endlich beachtet, wusste Eva. Adam, der gerade in ihren Unterschlupf heimkehrte, erfuhr von Eva, was geschehen war. Er sah, wie sie Kain umklammert hielt. Bevor er reagieren konnte, hörten sie Abel und Luluwa zurückkehren und eilig über die Stufen schlüpfen. Mit einem Satz verließ Kain die Arme der Mutter und verbarg sich in einem Winkel, den Rücken an die Wand gedrückt, das Gesicht zu einer finsteren Grimasse verzogen. Abel konnte seine Begeisterung kaum zügeln.
    Elohim habe sein Opfer in einem Lichtstrahl angenommen, erzählte er beseelt. Sie hätten es sehen sollen, rief er. Vom Lamm, das er auf den Opferstein gelegt habe, sei nur noch ein Häufchen Asche übrig.
    Luluwa bestätigte nicht nur Abels Bericht,
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