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Und oben sitzt ein Rabe

Und oben sitzt ein Rabe

Titel: Und oben sitzt ein Rabe
Autoren: Gisbert Haefs
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Identifizierung.«

2. Kapitel
    Irene betrachtete noch einen Moment den Apparat, nachdem das unerfreuliche Morgengespräch mit Andreas beendet war. Dann schüttelte sie den Kopf und ging ins Bad, um sich fertigzumachen. Alles sah noch ein wenig wüst aus. Roberts Wohnung war zwar geräumig und bis zu ihrem überfallartigen Einzug relativ leer gewesen, aber innerhalb weniger Stunden läßt sich ein halber Haushalt nicht befriedigend einräumen.
    Sie dachte, während sie sich anzog, an die vielen kleinen Dinge, derentwegen die Sache schiefgelaufen war. Einen richtig großen Grund hätte sie nicht nennen können.
    Sie bezweifelte auch, daß Andreas mehr als addierbare Kleinigkeiten aufzählen könnte. Obwohl es heiß war, fror sie einen Augenblick in dem Badezimmer mit der hohen Decke und den weißen Wänden. Es kam ihr fremd vor. Lächerlich, dachte sie, dabei hatte sie schon so oft in den letzten Monaten hier, in dieser Wohnung, die Nacht verbracht und in diesem Bad getan, was man in einem Bad gemeinhin tut. Sie dachte an die Annehmlichkeiten eines weitläufigen Altbaus mit Stuckdecken und an Robert, der schon seit zwei Stunden zwei Etagen tiefer bei der Arbeit war. Er hatte eine wichtige Verabredung um neun Uhr gehabt. Sie dagegen hatte sich den Luxus erlaubt, einmal richtig auszuschlafen. Sie dachte, während sie dezentes Make-up auftrug und dabei zufrieden ihr ovales Gesicht mit den geschwungenen Brauen und den vollen Lippen betrachtete, an die vergangene Nacht mit Robert, an die Mischung aus Zurückhaltung und Technik. Es haftete dem Beilager, dachte sie spöttisch, etwas Juristisches an. Präambel, Erlaß, Ausführungsvorschrift, Nachtrag. »Wahnsinnig aufregend«, murmelte sie. Dann schalt sie sich in Gedanken ein dummes Huhn. Abwarten, gewöhnen, und außerdem alles selbst eingebrockt.
    Unzufrieden verließ sie die Wohnung. Sie wußte, daß ihr nichts mehr an Andreas lag, nahm an, daß umgekehrt das gleiche galt, und ärgerte sich darüber, daß sie die Jahre und Gemeinsamkeiten nicht wie eine welke Pflanze ausreißen und vergessen konnte. In dem alten Treppenhaus klangen ihre Schritte fremd.
    Auf der Straße brauchte sie einen Moment der Orientierung im gleißenden Mittagslicht. Endlich fand sie die Sonnenbrille in ihrer Handtasche. Die abends so belebte Nordstadt mit den zahllosen Kneipen wirkte ausgestorben. Die wenigen Geschäfte konnten das Treiben der Abende nicht ersetzen. Mit energischen Schritten, wie um sich selbst von der Dringlichkeit ihrer Absichten und der Festigkeit ihrer Seele zu überzeugen, ging sie in Richtung Zentrum.
    Ihre Boutique erreichte sie gerade noch rechtzeitig, um der Verkäuferin beim Zuschließen zuzusehen.
    »Hallo Sylvia«, sagte sie. »Wie war's denn heute?«
    »Hallo Irene. Ruhig. Bei dem tollen Herbstwetter sind die Leute wahrscheinlich im Grünen. Oder im Büro. – Du siehst ein bißchen müde aus.«
    »Bin ich aber nicht. Ich hab gut geschlafen.«
    Sylvia lächelte. »Das heißt nichts. Ich meine, das kommt ganz drauf an ...«
    Irene lächelte zurück. »Komm«, sagte sie, kurz entschlossen, »ich lad dich ein.«
    Am vergangenen Tag hatte Sylvia die Boutique allein gehütet. Die Frauen waren einigermaßen miteinander befreundet. Sylvia wußte in Umrissen über ihr Privatleben Bescheid. Die abgebrochene PH-Studentin, ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen, ließ sich mit dem Rücken zum Alten Rathaus, über dem die Sonne fast senkrecht stand, vor einer Crêperie nieder.
    »Na?« sagte sie. »Was Neues?«
    Irene studierte kurz die Speisekarte, die sie nach drei Jahren in der mittelbaren Nachbarschaft fast auswendig kannte.
    »Nicht direkt.«
    Sie schwiegen, bis sie bestellt hatten. Irene lehnte sich zurück, betrachtete Sylvia und zündete sich eine leichte Zigarette an.
    »Eigentlich überhaupt nichts Neues. Reicht aber auch im Moment«, sagte sie dabei.
    Sylvia war anscheinend neugierig. »Wie war's denn?«
    »Was?«
    »Na, die beiden ersten Nächte im neuen Heim.«
    Irene inhalierte tief und hustete. »Ganz angenehm.« Sie kniff die Augen zusammen, weil sie in die Sonne sehen mußte.
    »Ist das alles?«
    Irene rümpfte die Nase. »In der Sonne und ohne Wind kann man's hier draußen noch gut aushallen, nicht? Immerhin haben wir Mitte Oktober.«
    Der Nachmittag im Laden verlief einigermaßen ereignislos. Kurz nach fünf klingelte das Telefon. Irene schüttelte den Kopf. Sylvia ging an den Apparat und meldete sich mit dem Namen der Boutique. Dann sagte sie »Moment bitte!«
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