Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und oben sitzt ein Rabe

Und oben sitzt ein Rabe

Titel: Und oben sitzt ein Rabe
Autoren: Gisbert Haefs
Vom Netzwerk:
festzustellen, warum ich dich eigentlich früher für liebenswert gehalten habe. Wenn ich was rauskriege, sage ich's Robert. Vielleicht kann er es nutzbringend vergeuden. Übrigens, Grüße von Sarah.«
    Eisige Pause. »Aha. Hab ich's mir doch gedacht. Und du hast immer so getan, als ob nichts wäre. Meine alte Freundin ...«
    »Alles Quatsch. War nie was und ist nix. Sie hat eine Postkarte aus der Provence geschrieben, an uns beide. Liebe Grüße aus dem Urlaub im sonnigen Südfrankreich. Bäh.«
    Irene murmelte irgend etwas; dann seufzte sie. »Na schön, mit dir kann man offenbar heute nicht vernünftig reden. Am besten fährst du gegen einen Baum. Ich besuch dich dann im Krankenhaus.« Damit hängte sie ein.
    Andreas legte sanft auf und ging grinsend ins Zimmer zurück. In einem Bücherregal stand ein Foto, das sie zurückgelassen hatte. Es zeigte Irene und Andreas im ersten Lenz einer hoffnungsvollen jungen Liebschaft. Nachdenklich betrachtete er das Bild. Die liebe Irene. Jetzt war sie achtundzwanzig, drei Jahre jünger als er, und seit der Aufnahme vor etwa vier Jahren hatte sie sich kaum verändert. Blond, schlank und dynamisch; Besitzerin einer Top-Boutique im Bonner Stadtzentrum, für die ganz Armen. Daneben stand er; er fühlte sich nicht viel älter als damals. Prüfend betrachtete er die langen braunen Haare, die er damals getragen hatte. Jetzt waren sie viel kürzer; Irene war modebewußt. Den Tatarenschnurrbart hatte er mit Nägeln und Zähnen verteidigt, und zugenommen hatte er auch nicht. Vielleicht hatten sich zwei oder drei Linien in seinem eher hageren Gesicht angesiedelt, aus dem Berufsleben oder der Eheveranstaltung. Die Muskeln waren allerdings nicht mehr so stramm wie zur Zeit der Aufnahme; in den letzten Monaten, als sich das Konstruktionsbüro und die Ehe dem jeweiligen Ende näherten, war er kaum noch zum Schwimmen oder Tennis gekommen.
    Sorgfältig löste er das Foto aus dem Rahmen und ging zum Tisch. Das Feuerzeug schien ihm in diesem Fall stillos. In der Küche fand er Streichhölzer. Als noch etwa ein Drittel des Bildes zu sehen war, fischte er aus einem Kästchen auf der Fensterbank eines jener schwarzen Zigarillos, die Irene »ekelhafte Stinkmorcheln« zu nennen pflegte. Er zündete es mit dem Rest des Fotos an; dann warf er das unansehnliche Dokument eines Irrtums in den Aschenbecher.
    Mit Poe auf der Schulter verließ er eine halbe Stunde später die Wohnung. Im Parterre überfiel ihn die Frau des Vermieters. Sie mußte im Hinterhalt gelegen haben.
    »Guten Morgen, Herr Goldberg«, flötete sie. »Haben Sie heute frei? Und wie geht es Ihrer Frau? Ich hab sie ja heute noch gar nicht gesehen.«
    Andreas lächelte freundlich. »Guten Morgen, liebe Frau Fischer. Wie geht's denn Ihrem Mann? Ich hab ihn ja heute noch gar nicht gesehen.«
    Herr Fischer, ein pensionierter Postbeamter, führte immer zwischen halb zwölf und eins mit der Zuverlässigkeit einer Stechuhr seinen Dackel spazieren, in eine nahegelegene Kneipe. Dort trank der Hund regelmäßig einen Napf Wasser. Was auch erklärt, daß Herr Fischer meistens müde zum Mittagessen erschien und streng roch. Die umfangreiche Wirtin schob eine Strähne aus der Stirn, verschränkte die Hände unter der Schürze und legte den Mund in weinerliche Wellen.
    »Ach, er ist mit dem Felix unterwegs. Sie wissen schon.«
    Bevor sie ihre Fragen wiederholen konnte, legte Andreas die Hand auf den Knauf der Haustür. »Na, er wird schon wiederkommen«, sagte er. »Was ich von meiner Frau nicht hoffe. Die Firma ist pleite, ich bin arbeitslos, mir geht es ausgezeichnet, und ich möchte hiermit zum nächstmöglichen Termin kündigen. Das kriegen Sie aber noch schriftlich. Wiedersehen.«
    Mit gelassener Seele und ruhiger Hand lenkte Andreas seinen alten Diesel quer durch die Stadt. Poe hüpfte auf dem Beifahrersitz hin und her und brabbelte unverständliches Zeug. Wie der Rabe und etliche andere Dinge, so war auch der Wagen stets ein Objekt des Streits gewesen: »Er stinkt bestialisch nach Diesel/er ist unmodern/er ist langsam/kannst du dir nicht mal was Schnittigeres zulegen/und so weiter. Waschen könntest du ihn auch mal wieder, wenigstens.«
    In einem Dorf auf der anderen Seite des Rheins lebte Großvater Goldberg. Seit seine Eltern, zu denen er kein besonders gutes Verhältnis gehabt hatte, vor Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, war der Großvater Andreas' einziger erwähnenswerter Verwandter. Ein alter Schuster, nun 76 Jahre
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher