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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt
Autoren: Ludwig Laher
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liebsten nur verkrochen hätte, hat der Hund sie vor allem zu regelmäßigen Spazierengängen vor die Tür gezwungen. Charlie, der gewöhnlich auf dreißig Meter Vorsprung bestand, machte sich nicht viel aus Abwechslung und bog stets um dieselben Ecken, Monika trottete am Morgen allein, am späten Nachmittag gemeinsam mit Philipp hinterdrein. Allmählich entwickelten sich diese gleichförmigen Runden von einer Last zu einer Lust, denn sie boten klare Anhaltspunkte, Überschaubarkeit und eine fast meditative Zurücknahme der Hirnaktivitäten.
    Im Deutschkurs, der ihr im übrigen keinerlei Schwierigkeiten bereite, habe sie viele interessante Leute aus aller Herren Länder kennengelernt, berichtet Monika, und mit einigen von ihnen bald nähere Bekanntschaft geschlossen, vor allem mit muslimischen Frauen ganz verschiedenen Alters. Mit denen verstehe sie sich komischerweise besonders gut.
    Mit seiner Familie dagegen tut sie sich nach wie vor recht schwer. Das liegt aber keineswegs daran, daß man ihr den nötigen Respekt versagen würde. Diese Leute sind nur alle so reserviert, nicht im besonderen ihr gegenüber, sondern generell, es wird wenig geredet miteinander, und wenn, dann kaum Persönliches, sondern über Dinge, die ihr meist nicht geläufig sind. In der Gegenwart von Philipps Verwandtschaft fühlt sie sich häufig unwohl, deplaziert, zurückgeworfen auf ihre Unsicherheit, ihre Defizite und vor allem fremd, sehr fremd. Er hat sie als Tänzerin vorgestellt. Wie sie reagieren würden, käme ihr tatsächliches Vorleben ans Licht, will sich Monika am besten gar nicht ausmalen.
    Der umgekehrte Kulturschock würde mindestens ebenso groß sein, fürchtete sie, als das ungleiche Paar sich eines Tages zeitig im vorletzten Frühling nach dem Mittagessen gut vorbereitet ins Auto setzte und sieben Stunden nach Osten fuhr. Für beide war es ein Aufbruch ins Ungewisse, sie waren angespannt, schwiegen sich die meiste Zeit an, während es in ihnen umso mehr arbeitete.
    Philipp hatte sich wochenlang speziell eingelesen. Seit er Monika kannte, begann er, sich systematisch über Geschichte und Gegenwart der slowakischen Roma zu informieren. Gänzlich unbeleckt in der Materie war er ohnehin nicht gewesen und er hatte sich von vornherein keine großen Illusionen gemacht, aber was er da aus dem Internet und einschlägigen Büchern erfuhr, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen: Mit großer Wahrscheinlichkeit dürfte sich in der Siedlung, wo Monika ihre frühe Kindheit verbracht hatte, nur wenig zum Besseren verändert haben. Wie würde er mit dem unfaßbaren Elend umgehen können, wie mit den Leuten dort, mit denen er kein Wort reden konnte, die ihm vermutlich mißtrauisch begegnen würden, wenn nicht gar feindselig?
    Auch Monika war völlig auf die Begegnungen fixiert, die ihr mutmaßlich bevorstanden, hoffentlich mit der Großmutter, wahrscheinlich auch mit dem Vater, wenn er nicht gerade wieder im Gefängnis saß, das Schwein. Wäre es nach ihr gegangen, würde sie einen großen Bogen um ihn gemacht haben, wenn es sich einrichten hätte lassen, aber Philipp hatte gemeint, ihr abgrundtiefer Haß auf ihn wäre so nie in den Griff zu bekommen. Sie mußte ihm recht geben, daß das monströse Etwas, zu dem sich der Vater in ihrem Kopf ausgewachsen hatte, seit die Mutter tot war, nur wenig mit dem weinerlichen Milchgesicht zu tun hatte, an das sie sich dunkel erinnerte, wenn sie sich dazu zwang, seine wirkliche Gestalt aufzurufen. Als sie ihn zuletzt sah, war er kaum älter als sie jetzt, Mitte zwanzig.
    Erst nach mehreren Anläufen fanden sie die Siedlung, denn es war längst finster geworden, als sie ziemlich erschöpft in der Gegend anlangten. Dann gleich der Keulenschlag: Die Großmutter ist tot, erfuhren sie, gestorben gerade einmal zwei Monate zuvor. Wenn es wenigstens vor zehn Jahren gewesen wäre, haderte Monika mit der Unerbittlichkeit dieser Neuigkeit. Sie hätte so viele Fragen an sie zu richten gehabt. Durch die Begegnung mit Philipp war ihr so richtig klar geworden, wie geschichtslos sie bisher unterwegs war. Nicht ein einziges Foto besaß sie von ihren Eltern, den Geschwistern, sich selbst als Kind, von der Siedlung, dem kleinen See, keine Dokumente, keine Briefe, keine Gegenstände, die eine Brücke schlagen würden.
    Philipp dagegen brauchte bloß sein dickes Album hervorkramen, das die Eltern vorsorglich für ihn angelegt hatten, und ihm fielen zu einer Reihe von Bildern sofort Anekdoten ein, lustige und weniger
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