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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt
Autoren: Ludwig Laher
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Lavoir, die Notdurft wird in der freien Natur verrichtet, Latrinen sind die Ausnahme. Man steigt den Hang hinauf, schlägt sich hinter die Büsche. Bei den wirklich alten Leuten, die nicht mehr gut zu Fuß sind, werden die Wege kürzer, die sie auf sich nehmen, um einen Abstand zwischen sich und den Geruch ihrer Exkremente zu legen. Aber wirklich alte Leute gibt es wenige, die Lebenserwartung hier ist nicht sonderlich hoch.
    Kerzen spenden bescheidenes Licht, in der warmen Jahreszeit sitzen abends alle draußen zusammen, unterhalten sich, musizieren, trinken, spielen Karten, sonst gehen sie bald zu Bett, stehen sie auf, wenn es hell wird. Lesen kann nur die Mutter, sie ist nämlich im Kinderheim aufgewachsen, weil die Großmutter ein Kind war, als sie die Mutter bekam. Im Heim hat man ihr Slowakisch beigebracht und Romanes schnell ausgetrieben, weil ordentliche Menschen nicht reden wie die Zigeuner. Und Zigeuner müssen nicht ewig Zigeuner bleiben, hat sie dort erfahren, der Sozialismus macht’s möglich. Aber kaum zurück aus dem Heim und mit siebzehn selbst noch ein halbes Kind, wird sie vom nicht einmal sechzehnjährigen Nachbarsburschen schwanger. Daß sowas passieren kann, wenn man nicht aufpaßt, hat man ihr beizubringen vergessen. Damit ist entschieden, daß sie Zigeunerin bleiben muß, sie wird es nie ganz verwinden.
    Aurelia, ein Baby, das in seiner Entwicklung auffällig zurückbleiben wird, kommt zur Welt, im Jahresabstand kommen Monika und Jaroslav, dann kommt der Bürgermeister. Ihr seid beide selbst noch nicht großjährig, eröffnet er den Eltern, die Kinder müssen deshalb ins Heim. Der junge Vater will das auf keinen Fall hinnehmen, kann sich aber nicht anders ausdrücken als mit einem heftigen Schlag in den Bauch des Bürgermeisters. Die Kinder müssen dann doch nicht ins Heim, der Großmutter wird die Vormundschaft übertragen, dafür muß der Vater zum ersten Mal ins Gefängnis. Wegen Verprügelns eines Bürgermeisters, dabei ist das gar nicht seine Art.
    Die Kinder schlägt niemand, niemand erzieht sie bewußt. Sie wachsen heran, selbständig lange vor der Zeit und gleichzeitig vollkommen ahnungslos, was die Welt jenseits der Reichweite ihrer Füße anlangt. Rund um die schlichten Behausungen der Roma am Hang vor der Stadt genügt vollauf, was sie beiläufig an praktischen Fertigkeiten und homöopathischen Wissensdosen aufschnappen, es genügt heute, und morgen ist kein Thema. Ihre frühe Kindheit ist glücklich, sagt Monika, aber ein Satz wie dieser muß aus späterer Zeit stammen, denn das Kind, das sie war, macht sich keinen Begriff von Glück. Es wird geliebt, das spürt es, das tut gut, das reicht.
    Monika schläft tief und fest wie alle anderen außer der Großmutter, die sie mitten in der Nacht weckt. Ich habe zwar nicht mehr genug für alle, flüstert sie und streichelt dem Kind übers Haar, aber für dich schon, kleiner Liebling, da schau her. Monika schlägt benommen die Augen auf und blickt direkt auf ein köstliches Butterbrot mit Marmelade. Als sie dann im Schneidersitz auf dem kleinen Bett diese für die Verhältnisse im Haus luxuriös belegte Schwarzbrotscheibe vertilgt, verschworen mit der Großmutter, die ihr fürsorglich die Kerze hinhält, fühlt sie sich vollkommen geborgen.
    Eines Tages hupt es aufdringlich, und vor der Tür sitzt der grinsende Vater auf einem funkelnagelneuen Motorrad. Er hat es sich ausgeliehen, setzt Monika behutsam auf den Sozius und fährt ein paarmal langsam die staubige, unbefestigte Siedlungsstraße auf und ab. Das kleine Kind klammert sich fest an ihn und strahlt. Eine schönere Erinnerung an den Vater ist ihr nicht verfüglich. Sie sieht noch die fünf Kronen, die er ihr lächelnd in die Hand drückt, als er sie vom weichen Sitz gehoben hat.
    Zu Weihnachten wird eine verschneite Fichte hinter dem Haus mit ein paar Christbaumkugeln und Kerzen bescheiden aufgeputzt. Die Kinder haben einen gebrauchten Schlitten geschenkt bekommen und rutschen beseligt die halbe Nacht neben dem Baum den Hang hinunter, ziehen ihn durch den nassen Schnee hinauf, auch wenn sich die Fußlappen längst angesaugt haben, schwer geworden sind und die Zehen fast abgefroren. Krank sind sie selten.
    Weh tut der dauernde Streit zwischen Mutter und Vater, wenn der denn überhaupt da ist. Wenn er wirklich wollte, könnte er Arbeit finden, der sozialistische Staat meint, darauf habe jeder ein Anrecht, auch ein Rom, aber er will nicht. Höchstens daß er hin und wieder ein paar Tage
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