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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt
Autoren: Ludwig Laher
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Leben, bleibt zurück. Sie werden einander nicht wiedersehen.
    Alles ist neu, alles ist anders. Der Gelähmte ist anfangs freundlich, das Haus der reinste Luxus. Der Mann liegt die meiste Zeit im Bett, sitzt im Rollstuhl, ist wundgelegen, als sie eintreffen. Monika hält Abstand, er ist ihr unheimlich, hat zwar Beine, die rühren sich aber nicht und sind ganz mager. Sein massiger Oberkörper paßt da gar nicht dazu, wirkt wie aufgesetzt, angeklebt. Ihr habt ja keine Schuhe, sagt er und schüttelt den Kopf. Du mußt ihnen sofort Schuhe kaufen, ruft er in die Küche. Monika ist jetzt neun Jahre alt, sie hat nie im Leben Schuhe besessen. Zuhause sind sie ihr nicht weiter abgegangen, aber hier tragen alle Leute Schuhe. Schaut nicht, was sie kosten, sagt der Mann zur Mutter und zu Monika, aber ich will etwas dafür. Du sollst mich Vater nennen.
    Gerade erst sind sie angekommen in dieser Stadt, leben jetzt vornehmlich unter Weißen, die tschechisch reden statt slowakisch, in einem Haus mit mehreren Zimmern, mit Fußboden, Fließwasser, Gas, Strom, Radio, Fernsehen. Monika kann das alles nur schwer verarbeiten.
    Aurelia hängt den ganzen Tag ängstlich an Mutters Rockzipfel, Monika kümmert sich um Jaroslav, aber eigentlich bräuchte sie selbst wen, der sie beschützt, in den Arm nimmt. Und jetzt soll sie auch noch Vater zu diesem wildfremden Mann sagen, Tata heißt das auf romanes.
    Sie hat ja einen Vater, auch wenn er nicht da ist, auch wenn sie ihn haßt. Immer mehr haßt, seit sie fort von zuhause sind, denn hätte er die Familie nicht verlassen, könnte sie jetzt daheim sein bei der Großmutter, dort, wo sie hingehört. Die Mutter versucht zu vermitteln. Hab Geduld, laß ihr etwas Zeit, meint sie, der Mann aber reagiert gereizt.
    In Schuhen fühlt Monika sich lange Zeit eingesperrt, und doch wird ihr der Tag unvergeßlich bleiben, an dem die Mutter am Morgen die schmutzigen Kinderfüße schrubbt, die Zehennägel schneidet. Mit der neunjährigen Tochter auf dem Rücken macht sie sich auf den ziemlich weiten Weg ins Geschäft. Monika sieht die Schuhe noch vor sich, in denen sie ungelenk den Laden verläßt, einfache blaue Sandalen mit einem Riemchen, das an der Achillessehne anfangs unangenehm wetzt. Obwohl sie fast nichts wiegen, fühlen sie sich an wie Gewichte, die die Füße schwer machen. Auch kommt Monika der Boden plötzlich so weit weg vor.
    Zuhause soll sie sich ordentlich bedanken, meint die Mutter. Monika weigert sich, mehr als ein knappes Danke ist nicht drinnen. Ihn etwa auf die Wange zu küssen, kommt überhaupt nicht in Frage. Dafür legt sie sich am Abend mit den Schuhen ins Bett. Das geht nicht, sagt die Mutter und schnallt sie auf. Monika spreizt bockig die Zehen, beide müssen herzhaft lachen, als die Mutter ihr die Sandalen mühselig von den Füßen schält.
    Mit Mutters Pflege ist der Hausherr äußerst zufrieden. Seine eigenen Kinder sind erwachsen und nur selten kurz auf Besuch hier. Seit sie ihn umsorgt, vorsichtig eincremt, alle paar Stunden umbettet, auf eine stets saubere Unterlage achtet, schauen seine Druckwunden nicht mehr nach rohem roten Fleisch aus. Aus uns beiden kann noch etwas werden, meint er vergnügt und klopft mit beiden Händen auf die toten Oberschenkel. Mehrmals am Tag erhält er von irgendwelchen Männern Besuch, mit denen er vom Krankenbett aus weiter seine einträglichen Geschäfte betreibt. Welcher Art diese sind, erfährt Monika nicht.
    In diesen Monaten hat sich weit mehr radikal verändert als Monikas persönliche kleine Welt, aber bis zu ihr spricht sich das nicht durch. Würde sie schon die Schule besuchen, hätte sie längst erfahren, daß jetzt neue Lehrpläne gelten, weil, wie es heißt, die lange Zeit der Unfreiheit ein für allemal vorbei sei. Täglich werden neue Geschäfte eröffnet, überall bunte Werbeplakate affichiert. Derzeit wird die Stadt von den Nachbarn jenseits der Grenze geradezu überschwemmt, seit der deutschen Währungsunion sind selbst die Klomuscheln ausverkauft, weil hier alles so billig geworden ist für sie. Wenn man geschickt ist, kann man in dieser Umbruchszeit schnell reich werden. Der Gelähmte ist geschickt.
    Mit Jaroslav beginnt Monika die Gegend zu erkunden, täglich ziehen die Kinder weitere Kreise. Geld haben sie nur selten ein wenig, aber das macht nicht so viel aus. Sie streifen durch die sanierungsbedürftige Innenstadt, über den alten Marktplatz mit den düsteren Laubengängen, durch abgewohnte Hinterhöfe, durchs trostlose,
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