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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt
Autoren: Ludwig Laher
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hätten sie nichts verloren. Vom Herumstreunen mitten in der Nacht ist die Rede, von Verwahrlosung, vom Stehlen, Schlägern, Frechsein und so weiter, saubere Früchtchen seien sie.
    Für Monika dauert die Fahrt unendlich lange. Völlig erschöpft vom Heulen, redet sie sich ein, daß dieses Heim in Großmutters Nähe liegen wird. Und wenn die Mutter den Bruder und sie dort abholt, morgen oder spätestens übermorgen, werden sie einfach heimkehren in die Siedlung oberhalb des Sees. So wird es sein. Sie kann etwas schlafen. Daß sie kaum mehr als dreißig Kilometer gefahren sind, als sie aussteigen muß, wird ihr erst Jahre später dämmern.
    Monika hat noch nie in ihrem Leben eine Landkarte gesehen, sie kennt die Himmelsrichtungen nicht und die Lage der Orte, an denen sie bisher gelebt hat. Monika weiß nicht, wie ein ordentliches Kind mit Messer und Gabel ißt. Monika hat noch nie ein Taschentuch verwendet, sie dirigiert den Rotz stattdessen kunstvoll mit Finger- und Atemdruck aus der Nase. Monika kann kurz vor ihrem zehnten Geburtstag nicht lesen und schreiben, kaum rechnen. Und an das erste Paar Schuhe hat sie sich noch wenig gewöhnen können. Nichts Neues für die Heimleitung.
    Waisenkinder und solche aus schwierigen Familien bevölkern im Normalfall bis achtzehn diese Anstalt, darunter viele Roma. Das Personal hat höchst unterschiedliche Erziehungsvorstellungen. Die einen bemühen sich trotz schwierigster Umstände geschickt um ein Mittelmaß zwischen Autorität und Zuwendung, Verwaltung und Förderung. Andere leisten frustriert Dienst nach Vorschrift, der Job ist schlecht bezahlt. Bis die Mutter dich besuchen kommt, kannst du ihr ja regelmäßig schreiben, lautet ein Vorschlag, der Monika binnen kürzester Zeit dazu bringt, sich diese vordem uninteressante Fertigkeit anzueignen.
    Da sitzt sie nun und konzentriert sich, malt Buchstaben auf Buchstaben: Uns geht es gut. Wie geht es dir? Wann kommst du? Ich hab dich lieb. Monika. Und dann zeichnet sie mit Farbstiften eine Blume darunter. Die Briefe der Mutter kommen pünktlich jede Woche, sind oft vier, fünf Seiten lang, begehrter Lesestoff. Monika hebt sie alle auf, knüpft den kleinen, mit einer Hanfschnur umwickelten Stapel auf, wenn ein neuer dazukommt.
    Eines Tages wacht der Gelähmte am Morgen nicht mehr auf. Die Mutter verständigt die Rettung, aber es ist zu spät, das Herz. Er hat die letzte Zeit dauernd davon geredet, sie heiraten zu wollen, und jetzt das. Rund um die Uhr hat sie ihn gepflegt, was nun werden wird, steht in den Sternen. Sie weiß, wo er das Bargeld versteckt hält. Bevor die Verwandten eintreffen, schafft sie ein Bündel Banknoten zur Seite. Sie legt den drei Kindern Sparbücher zu je hunderttausend Kronen an, die Zinsen sollen sie im Heim als Taschengeld von Zeit zu Zeit ausbezahlt bekommen.
    Monika weiß nicht recht, ob sie ein bißchen traurig sein soll, als sie aus einem der Mutterbriefe vom plötzlichen Tod des Gelähmten erfährt. Er konnte nett sein, lustig, er bezahlte Schuhe und Gewand, wenn man ihm schön tat, sogar ein Eis. Aber er hat die Kinder wiederholt geschlagen, manchmal stundenlang eingesperrt, sogar ausgesperrt, wenn die Mutter einmal nicht daheim war. Oft war er scheinbar ohne Grund gereizt, es gab Tage, da hat er der Mutter einfach verboten, für die Kinder zu kochen, dann wieder hat er ihr Vater sein wollen und der Mann von der Mutter. Das vor allem verzeiht sie ihm nie. Und da sind auch noch seine ekelhaften Verwandten, der Bruder, den sie dafür verantwortlich macht, daß sie und Jaroslav ins Heim gebracht wurden, der Mann der Tante, der ihr so wehtun wollte, wehgetan hat.
    Monika weiß nicht, was sie sich wünschen soll. Da ist einmal die zwischenzeitlich schon etwas verblaßte Sehnsucht nach der Umgebung von früher, nach der Großmutter und den Kindern in der Siedlung. Wie lange ist das eigentlich her? Lebt die Oma zum Schluß vielleicht gar nicht mehr? Vor allem jedoch ist da die verzehrende Sehnsucht nach der Mutter. Wie lange sind Jaroslav und sie hier im Heim? Wie lange lebten sie im Haus des Gelähmten? Monika weiß es nicht. Als sie ankamen, war es schon warm, geblüht hat alles, überlegt Monika. Und jetzt ist es an schönen Tagen immer noch ziemlich warm, die Blätter verfärben sich zwar langsam, fallen aber noch nicht von den Bäumen. Ist das lange, ist das kurz?
    In der Nacht rinnen ihr Tränen über die Wangen, sie wirft sich von einer Seite auf die andere, kann nicht und nicht schlafen. Sie beißt
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