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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt
Autoren: Ludwig Laher
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draußen, den Kindern ist es verboten, die Fenster zu öffnen. Der kalte Luftzug läßt eine Erzieherin Nachschau halten. Sie reißt Monika im letzten Augenblick zurück. Was dann mit ihr geschieht, kriegt die Zehnjährige nicht mit. Sie ist nicht ansprechbar, sie weint nicht einmal.
    Professionelle Hilfe für das verzweifelte Kind ist nicht vorgesehen, im Gegenteil. Es gibt eine Strafpredigt und fünf schwarze Punkte in der Kartei. Tage später nimmt Monika eine Glasflasche mit in den Park, setzt sich auf eine Bank, schlägt die Flasche in Scherben und schneidet sich den linken Unterarm auf, nicht allzu tief, aber tief genug. Sie sieht ruhig zu, wie sich die Haut öffnet, das Blut in Zeitlupe herausquillt. Es tut sehr weh, aber gleichzeitig, merkwürdig ist das, läßt der Schmerz in der Seele nach. Sie kann klar denken, nüchtern gibt sie sich Auskunft:
    Ihr Leben ist aus den Fugen geraten, geblieben ist ihr bloß der kleine Bruder. Für ihn soll sie stark sein, aber niemand ist stark für sie. Niemand wird sie hier herausholen, niemand an sich drücken. Wegen der Mutter hat sie lesen und schreiben gelernt, niemand wird ihr mehr schreiben jetzt, und ihr fällt niemand ein, dem zu schreiben sich lohnte. Die Großmutter, ja, die Großmutter. Monika hätte ihr so viel zu erzählen, dafür reichen ihre Schreibkünste aber nicht. Und könnte sie schriftlich ausdrücken, was geschehen und wie ihr zumute ist, wie dringend sie Hilfe braucht, die Großmutter könnte es nicht lesen, niemand kann lesen in ihrer Umgebung außer die Mutter, außer früher die Mutter. Und selbst wenn jemand der Großmutter den Brief, den Monika nie schreiben könnte, vorlesen würde, was wäre erreicht damit? Die Großmutter ist nicht gesund, hat kein Geld und kann die Kinder unmöglich bei sich aufnehmen, schlimmer noch, sie würde sich entsetzlich aufregen über die Katastrophennachrichten und vielleicht sterben daran, wenn sie noch nicht tot ist. Monika sackt zusammen, sie wacht in ihrem Bett auf, der Arm ist verbunden.
    Kaum ist sie wieder bei Bewußtsein, fällt ihr der Vater ein, der verhaßte Vater, der alles zerstört hat. Sie spürt, wie sie sich aufzuregen beginnt. Zum ersten Mal melden sich grausame Rachephantasien, die sie jahrelang begleiten werden. Monika stellt sich vor, wie sie ihn umbringt, im Schlaf mit einem großen Stein, der seinen Kopf zermalmt, durch eine Pistolenkugel, als er gerade mit einer Frau im Bett liegt, von hinten mit dem Küchenmesser, als er gerade am Wegrand in die Brennesselstauden pißt. Ein wohliges Gefühl macht sich breit in ihr, löst die Anspannung ab, sie streckt sich und schläft ein.
    Jedes Kind im Heim kann, muß Gut- und Schlechtpunkte sammeln. Rote, gute sind der Lohn für ausgezeichnete Lernleistungen, für besonderen Fleiß beim Putzen, Nähen, Kochen, bei der Arbeit im anstaltseigenen Obst-, Gemüse- und Blumengarten, bei Schulfesten und -feiern, für nützliche Hinweise auf Übertretungen der Hausordnung durch andere. Schwarze, schlechte handelt man sich bei mangelndem Schulerfolg ein, bei disziplinären Entgleisungen wie heimlichem Rauchen oder unerlaubtem Verlassen des Heimgeländes, aber auch für Untaten wie die Verwendung der Muttersprache, wenn man ein Romakind ist. Je nach Schwere des zu Ahndenden setzt es ein bis fünf schwarze Knödel. Wer hingegen brav ist und im roten Plus, hat Anspruch auf allerlei Vergünstigungen. Besonders begehrt ist der tageweise unbegleitete Ausgang am Wochenende, garniert vielleicht mit einem Kinobesuch in der nahen Stadt.
    Für Monika ist derlei völlig außer Reichweite, aber das ist ihr gleichgültig. Jede Selbstverletzung hat die Höchstzahl an Schlechtpunkten zur Folge, und da kaum ein Monat vergeht, in dem sie nicht zu den Glasscherben Zuflucht nimmt, hat sie aufgehört zu zählen. Sie hat eigentlich nie angefangen, ihre schwarzen Punkte zu zählen. Die Strafen dafür reichen von einer Woche Fernsehsperre über Extraputzschichten bis zum Verbot, sich in der Freizeit im Park aufzuhalten. Monika läßt sich davon nicht abhalten, nickt nur stumm, wenn sie erfährt, was ihr diesmal blüht.
    Nie schneidet sie sich auf, wo schon Narben sind oder die jüngsten Wunden gerade langsam verheilen. Sie will sich dort versehren, wo sie noch makellos ist. Zwischen den einzelnen Schnittstellen – und es sind immer Schnittstellen, denn sie beschränkt sich nicht auf bloßes Ritzen – liegt nur wenig unbeschädigte Haut. Monika hat an der Innenseite unten angefangen
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