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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt
Autoren: Ludwig Laher
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sich fest in den Arm, befühlt den Abdruck der Zähne. Wie wird es weitergehen? Wann kommt die Mutter sie endlich holen? In ihren kurzen, kindlichen Briefen steht davon nichts. Monika hat Angst vor enttäuschenden Antworten.
    Du kannst vorläufig bleiben, sagt der Bruder des Toten zur Mutter, wir werden sehen. Er klopft ihr auf den Hintern und grinst. Mit Aurelia lebt sie derzeit allein im Haus. Über Gegenleistungen werden wir uns bei Gelegenheit unterhalten, das ergibt sich von selbst, meint der Mann.
    Schon lange vor Weihnachten kündigt die Mutter endlich ihren Besuch im Kinderheim an und phantastische Geschenke: Monika wird sogar ein Fahrrad bekommen. Sie gibt ihre Briefe weiter bei der Erzieherin ab, doch ohne jede Erklärung bleiben Mutters Antworten auf einmal aus. Als Monika sich schließlich wenige Tage vor dem Fest doch zu fragen getraut, warum die Mutter sich nicht mehr meldet, erfährt sie von ihrem Tod vor Wochen, aber nichts über die Umstände, längst sei sie im übrigen begraben.
    Im Rahmen der Möglichkeiten bemüht man sich an diesem Tag zwar um die beiden Kinder, aber der Rahmen der Möglichkeiten ist begrenzt. Es ist der Schock ihres Lebens, Monika wird sich davon ihre ganze Kindheit und Jugend lang nicht erholen. In ihrem Kopf ist fast nur noch für die Mutter Platz, für das ideale Bild der Mutter, von der sie nicht einmal ein einziges Foto besitzt. Ihre Bedeutung wird durch den unvermittelten Verlust, das brutale Verlassenwerden ohne Abschied ins Unermeßliche wachsen.
    Nur kurz wird Monika sich jeweils ablenken können, der Schmerz lauert hinter jeder Ecke, sie wird ihn kultivieren, sie wird in Abständen tot sein wollen. Sie wird niemanden haben, der sich ihrer Seelenpein annimmt. Das Verhältnis zu Jaroslav wird noch enger werden, sie wird ihm, nimmt sie sich vor, wo es geht, die Mutter ersetzen, ihn beschützen, damit wenigstens er bleibt. Aber sie wird ihm gegenüber, merkwürdig scheint das, wenn man nicht genau hinschaut, kein furchtbar schlechtes Gewissen haben, sooft sie selbst aus dem Leben zu gehen versucht. Was aus Aurelia, der fremden Schwester, geworden sein mag, diese Frage wird sie sich erst fünfzehn Jahre später stellen.
    Aurelia hat alles mitansehen müssen: Wie der Bruder des Gelähmten wieder einmal mit seinem Zweitschlüssel in der Nacht aufsperrte, zur Mutter ins Bett steigen wollte, wie sie sich wehrte und schrie, wie er den Polster nahm und fest auf ihr Gesicht drückte, wie sie sich nicht mehr rührte und er fluchend das Haus verließ. Aurelia war vollkommen verstört, wollte die Mutter schlafen lassen, schloß die Tür, wartete im Raum daneben. Wartete zwei Tage, zwei Nächte. Aß nicht, trank nicht. Hielt trotz der herbstlichen Kühle das Fenster offen, weil es süßlich stank.
    Im Polizeiakt steht, der Gashahn sei geöffnet gewesen. Die Neunundzwanzigjährige habe sich offensichtlich das Leben genommen. Aurelias Geschichte mit dem Polster wird kurz erwähnt, der Verdächtige befragt und sein energisches Leugnen protokolliert. Aufwendige Nachforschungen, eine Autopsie gar erspart man sich. Monika erfährt nichts von alledem.
    Es ist alles so schnell gegangen. Im Frühling weg von der Großmutter, im Spätsommer weg von der Mutter, und jetzt, im Winter, ist die Mutter selbst weg, ganz weg, für immer ganz weg. Jaroslav erklärt sie, Mama sei im Himmel, dort, wo die aus dem Buch sind. Das Buch ist die Bibel. Der kleine Bruder lacht lauthals. Woher weißt du das? fragt er, das stimmt überhaupt nicht, du bist böse. Doch, das stimmt, nickt Monika kraftlos und wehrt sich nicht wirklich, als Jaroslav mit seinen kleinen Fäusten auf sie eintrommelt. Mama sieht uns von oben, Tag und Nacht, sie will, daß wir zusammenhalten, lernen, du weißt doch, was sie gesagt hat. Es dauert, bis in Jaroslav der Widerstand zusammenbricht und er losheult. Später läßt er sich dann genau erklären, was die Mutter dort oben den ganzen Tag macht. Er kuschelt sich an die Schwester, und Monika erzählt ihm tapfer schöne Geschichten, aber sie glaubt nicht mehr an den Himmel. Sie will nicht mehr. Jaroslav wird es auch ohne sie schaffen, und wenn nicht, dann eben nicht.
    Was sie will, das wird ihr immer klarer, ist aus dem dritten Stock in die Tiefe springen und weg sein. Sie klettert auf das weißgestrichene Fensterbrett im Flur, setzt sich hin, die Beine in der weißen, geflickten Strumpfhose baumeln über dem Abgrund. Einen Moment noch hinunterschauen, tief durchatmen. Es ist frostig
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