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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt
Autoren: Ludwig Laher
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und arbeitet sich vor in Richtung Armbeuge. Manchmal klafft die Wunde derart, daß sie sofort genäht werden müßte. Im Heim denkt man nicht daran. Bloße Verbände allein können da wenig ausrichten, entsprechend häßlich und breit, glänzend und wulstig gestaltet sich ein Teil der Vernarbungen. An manchen Tagen, vielleicht liegt es am Wetter, unterstützen dumpfe Narbenschmerzen Monikas einsamen Kampf gegen die Seelennöte, heute, morgen, zehn, fünfzehn Jahre später kommen sie, gehen sie, wie die Erinnerungen.
    Das alles genügt der Zehn-, der Elfjährigen noch nicht. Sie greift zur Nähnadel, ritzt sich in Abständen irgendwo am Körper ein neues M in Großbuchstaben ein, in der Nabelgegend, am Fußknöchel, auf der Hand, manchmal größer, manchmal kleiner, manchmal verschnörkelt, manchmal in klaren Linien. M steht für Mama, nicht etwa für Monika. Sie träufelt vorsichtig blaue Farbe in die Wunde, manchmal entzündet sich solch eine primitive Tätowierung, sie beginnt zu eitern, Monika ist das recht. Einem Mädchen aus ihrem Zimmer trägt sie auf, ihr in gleicher Weise am Oberarm ein großes Kreuz und direkt darüber ein weiteres M einzuritzen. Sie ersucht nicht darum, sie ordnet an. Einwendungen, Fragen duldet sie keine, sie redet mit den anderen Kindern grundsätzlich nicht darüber, was in ihr vorgeht, sie redet mit niemandem darüber. Sie liegt auf der Seite im Bett, beißt auf ihre Lippen und hält still, als Jarmila mit feuchten Händen zunächst die Konturen des Kreuzes durch die Haut treibt. Monika weiß nicht einmal, wo die Mutter begraben ist.
    Wie ein deutsches Ritterkreuz sieht diese jüngste, bisher größte Tätowierung aus. Monika bestand darauf, die gesamte Fläche müsse am Ende blau leuchten, aber das bedeutete, Dutzende Quadratzentimeter Haut zu zerstören, und nach weniger als einem Viertel der Arbeit ist sie fast besinnungslos vor Schmerzen und Jarmila mit ihren Nerven am Ende. Überall Blut, überall Farbe, beide Mädchen heulen hemmungslos um die Wette und können sich auf einiges gefaßt machen.
    Eine Lehrerin, die wohl spürt, wie es um das schwer traumatisierte Kind steht, schenkt Monika ohne große Worte einen dreißig Zentimeter großen plüschigen Uhu, ein höchst ungewöhnliches Stofftier. Der Vogel wird zu Monikas wichtigstem Besitz, altersweise und ernsthaft blickt er ihr tief in die Augen, ein würdiger, über den Dingen stehender Trostspender. Mit ihm im Arm versucht sie, aus der abendlichen Müdigkeit in den Schlaf hinüberzudämmern, ihm allein erzählt sie ohne Worte, was los ist mit ihr, in ihr.
    Die Nächte sind trotzdem meist furchtbar und viel zu lange. Sie kann nicht und nicht einschlafen, und wenn sie dann endlich hinübergeglitten ist, quälen sie schreckliche Träume. Die wenigen schönen dazwischen lösen dafür ein ungekanntes Glücksgefühl aus in ihr, und sie brennen sich in ihr Gedächtnis ein: Monika trägt einen flauschigen Pyjama mit Blumenmuster. Vergnügt stellt sie fest, daß sie sich tatsächlich im Himmel befindet, unnatürlich hell ist es rundherum, und von allen Seiten strömen andere Kinder herbei, alle ebenfalls im Nachtgewand, manche davon kennt sie aus dem Heim. Sie sind bester Laune und schleppen dunkle Bücher zu einer himmlischen Mülldeponie, die Monika erst jetzt auffällt. Mit ausladenden Gesten werfen sie die Bücher mitten hinein und hopsen erleichtert fort.
    Von den ständigen Selbstverletzungen einmal abgesehen, fügt Monika sich in dieser Zeit gewöhnlich den Anordnungen der meist weiblichen Lehrer und Erzieher. Sie lernt leicht und holt etwas auf von dem, was Alterskollegen, die nicht einige Monate, sondern mehrere Jahre Schulbildung hinter sich haben, längst beherrschen. Ihr Tschechisch macht erstaunliche Fortschritte, obwohl sie nicht viel redet. Sie läßt sich nichts gefallen, kann laut werden und bestimmt, wenn es nicht anders geht, auch handgreiflich. Sie kocht gerne und gut, Nähen und Stricken dagegen sind nicht wirklich ihre Sache, aber beim Fußball und im Winter beim Eishockey machen ihr nur wenige etwas vor. Da stellt sie überzeugend ihren Mann, der sie einerseits weiter werden will. Andererseits will sie gar nichts werden, gar nicht sein, und der verführerisch lockende Selbstmordgedanke stellt sich nachts oft ein wie das Amen im Gebet.
    Zum Kinderheim als Unterkunft, als Dach über dem Kopf entwickelt sie ein pragmatisches Verhältnis. Nüchtern betrachtet, ist dieser repräsentative Bau, ein nur leicht ramponiertes
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