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Und nehmen was kommt

Und nehmen was kommt

Titel: Und nehmen was kommt
Autoren: Ludwig Laher
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permanenten Alkoholmißbrauchs, nach fünf Jahren durchwachter, mit Warten, Party und Sexarbeit verbrachter Nächte. Monikas Psyche war mit den Bedürfnissen des Körpers allerdings gar nicht einverstanden. Es mußte ihr als Zumutung erscheinen, nunmehr, da alle Zeit der Welt zur Verfügung stand und die eingespielten Ablenkungsmanöver nicht länger griffen, stillhalten zu sollen und großzügig darauf zu verzichten, sich nach allen Regeln der Kunst mit dem monströsen Alptraum herumzuschlagen, an dem sie fast zerbrochen wäre.
    Die Folge war ein wenig an den üblichen Tageszeiten orientiertes Durcheinander von Wach- und Schlafphasen, von Dösen und Zur-Decke-Starren, von Angst- und Erschöpfungszuständen, von Nachdenken und Ablenken, strukturiert nur durch die von Charlie vehement geforderten Spaziergänge. Wenn Philipp da war, ging es ihr meist erheblich besser, sie kochten miteinander, hörten Musik, schauten Filme, schmiedeten Pläne, führten endlose Gespräche, leisteten sich heftige Auseinandersetzungen, die regelmäßig damit endeten, daß sie sich in die Arme fielen und aneinander festhielten.
    Dieses halbe Jahr war zwar wie eine Mischung aus Achter- und Geisterbahn, aber zugleich wahrscheinlich die spannendste Zeit in ihrem Leben. Auch heute noch vergeht kaum ein Tag, an dem Monika und Philipp nicht ins Streiten geraten, sie sind nun einmal beide impulsiv und halten mit ihrem Ärger, ihren Wünschen und Überzeugungen nicht lange hinter dem Berg. Im Rückblick scheint ihnen diese rasche Abfolge von wohliger Wärme, unheilschwangerer Gewitterstimmung, reinigenden Ausbrüchen und prompter Versöhnung die einzig aussichtsreiche Beziehungsform zweier Menschen zu sein, die einander in einer beidseitigen Extremsituation mehr oder weniger angeschlagen über den Weg liefen und, bei aller Zuneigung, um keinen Preis der Welt bereit waren, zu sehr von sich selbst abzusehen, wenn sie schon das Risiko eingingen, es miteinander zu versuchen.
    Sie spielten mit offenen Karten, offene Bücher waren sie einander deswegen noch lange nicht. Anfangs dosierte Monika ihre Erzählungen über die Vergangenheit vorsichtig, sie schämte sich einerseits, andererseits ärgerte sie sich über ihre Scham. Waren es, sagte sie sich trotzig, waren es denn je bewußte, von ihr selbst zu verantwortende Entscheidungen gewesen, die sie zu dem gemacht hatten, was aus ihr geworden ist? Außerdem spürte sie nur zu deutlich, daß sie jedes Hervorkramen, jedes In-Worte-Fassen traumatischer Details unendlich viel Kraft kostete, in ein tiefes Loch fallen ließ.
    Philipp wiederum wollte sich genau aus demselben Grund zurückhalten und getraute sich kaum einmal nachzuhaken, wenn sie irgendwelche Andeutungen machte. Für ihn bestand kein Zweifel, daß sie auf dünnem Eis unterwegs war. Umgekehrt blieb er, anders als bei ihren unverbindlichen ersten Begegnungen, nunmehr meist einsilbig, was sein eigenes Vorleben anlangte, denn Monika, ohnehin von Selbstzweifeln geplagt, empfand sich, selbst wenn er kaum von ihr sprach, in ebenso ständiger wie hoffnungsloser Konkurrenz zu seiner geschiedenen Frau. Was am meisten auf ihm lastete, hing aber nun einmal auf die eine oder andere Weise mit der zu Bruch gegangenen Ehe zusammen, und so vermied er es nach Tunlichkeit, die Sprache darauf und auf die lange Vorgeschichte dieses Scheiterns zu bringen.
    Zu den schlimmsten Deformierungen, die Monika während der Jahre mit Joe erfahren hatte, gehörten die entwürdigenden Rituale, zu denen er sie nötigte. Wie ein kleines, unmündiges Kind mußte sie um jede Winzigkeit bitten und betteln, selbst darum, ausnahmsweise einmal nicht geschlagen zu werden. Jede andere Form von Willenserklärung nahm er sofort als persönliche Provokation, und er handelte dementsprechend. Sie hatte, was Demutsgesten anlangt, freilich eine gewisse Vorbildung, denn schon bei den Betteltouren an Großmutters Seite galt es, ein mitleiderregendes Gesicht aufzusetzen, sich klein und verschüchtert zu geben, auch wenn einem der Sinn nach Herumtollen und Eislutschen stand.
    Heute noch, erzählt Monika, ertappe ich mich oft genug dabei, ertappt Philipp mich dabei, daß ich mich unbewußt aufs Schmeicheln und einen kindlich-naiven Tonfall verlege, wenn ich von ihm etwas haben will. Bin ich dein Vater? fragt er dann ärgerlich. Und wenn er gut aufgelegt ist, klingen die Fragen zum Beispiel so: Kannst du eigentlich schon alleine schneuzen, kleines Mädchen? oder: Kommst du gerade aus dem Kindergarten
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