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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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Tal allmählich eine Teerstraße. Offensichtlich die reguläre Zufahrt zur Militärbasis. Wir scheinen uns auf der Rückseite an das Fort herangearbeitet zu haben. Sollen wir nun durch die offizielle Schleuse? Aber wo ist diese Schleuse? Einen Kontrollposten sehen wir nicht.
    Jedes Mal wenn wir zögern, fuchtelt der Soldat ungeduldig mit seinem Scheinwerfer und dirigiert uns weiter ins Tal. »Very dangerous area, very dangerous«, schreit er. »Taliban area.«
    »Yes, we know«, schreien wir zurück, »we know. Help us!«
    »Go road, go Miranshah.«
    Will er uns abwimmeln? Nach Miranshah?
    Plötzlich erlischt der Scheinwerfer. Wir stehen in der pechschwarzen Nacht und lauschen auf Anweisungen, hoffen, dass uns jemand holen kommt. Nichts geschieht. Wir sind zwanzig Meter von der Teerstraße entfernt, der absoluten Gefahrenzone. Wenn die Taliban ausschwärmen mit ihren Toyotas, dann werden sie über diese Straße kommen. Ich denke an Nazarjan, aus dessen schwarz geschminkten Augen jedes Mitgefühl verschwunden sein wird angesichts unseres Verrats. Wir haben seine »Gastfreundschaft« missbraucht, wir stehen nicht mehr unter dem Schutz des Paschtunwali.
    Nazarjan, der erfahrene Kämpfer, der unzählige Kriegsoperationen in Afghanistan geleitet hat. Für den es als überzeugten Taliban nur eine Pflicht gibt: sein Land von den Ungläubigen zu befreien und die Scharia durchzusetzen. Und wenn er in diesem Kampf sterben sollte, dann wäre dies ein Privileg, als Märtyrer würde sein Leib direkt ins Paradies eingehen, seinen Angehörigen würde man gratulieren.
    »Was sollen wir machen? Die lassen uns nicht rein.«
    David reagiert nicht.
    »Wollen wir einfach weitergehen?«, hake ich nach.
    »Nein.«
    Wieder herrscht Stille. Langsam zeichnet sich im Mondlicht die Teerstraße ab, als breites, glattes Band.
    »David«, flüstere ich, »was passiert jetzt?«
    David antwortet nicht. Kein Auto fährt vor, kein Militärstiefel knallt auf dem Asphalt.
    Die Minuten vergehen, und langsam geben wir die Hoffnung auf, dass der Wachposten mit dem Scheinwerfer etwas unternehmen wird. Allmählich kommen uns auch Zweifel, ob das Stimmengewirr aus Urdu und Paschtu, das Gebrüll, das aus dem Stützpunkt getönt hatte, von mehr als einem Soldaten kam. Vermutlich sitzt da ein einsamer Rekrut am Scheinwerfer, verängstigt, überfordert. Ein Bursche von vielleicht achtzehn Jahren, der sein Schicksal dafür verflucht, dass er ausgerechnet in dieser Nacht zur Wache eingeteilt worden ist.
    Er ist panisch vor Angst, hat Angst vor uns, Angst vor den Taliban, Angst vor der undurchdringlichen Finsternis, die den Stützpunkt umgibt. Er hat Angst, einen entscheidenden Fehler zu machen, der ihn die Karriere, den Sold, die Achtung seiner Offiziere oder vielleicht das Leben kosten kann.
    Soll er seine Vorgesetzten wecken? Alarm schlagen?
    Er scheint einfach zu hoffen, dass wir aus seinem Leben verschwinden.
    »Hello?«, ruft David in die Nacht, und ich unterstütze ihn. »Hello, hello!«, schreien wir gemeinsam.
    Schließlich kommt ein »hello« als Antwort, und wir rufen: »We need to talk to you.«
    »I don’t want to talk to you«, schreit der Mann zurück.
    Wieder verstreichen die Minuten. Dann flammt der Scheinwerfer wieder auf.
    »Okay«, schreit der Soldat zu uns, »okay. Hadscha, relax.«
    Seine Stimme klingt alles andere als relaxt.
    »Move!«, schreit sie.
    Wir stehen auf und denken, nun hat er es endlich verstanden. Wir sehen einander an und gehen vorsichtig zwei Schritte. Doch sofort fängt der Soldat wieder zu brüllen an: »Stop! Stop!«
    Ist er vollkommen verrückt geworden? Warum holt er nicht Hilfe, wenn er der Situation nicht gewachsen ist? Seine Stimme klingt jung, nicht unfreundlich, aber hilflos bis zur Hoffnungslosigkeit. Wir lassen uns auf die Knie fallen. Die Angst des Soldaten überträgt sich auf uns, er scheint zu keiner rationalen Handlung fähig. »Don’t shoot us! Don’t shoot!«, schreien wir. »Please help us! Kidnapping. Kidnapping.«
    »Am besten wir lassen alles zurück«, sagt David. »Er ist zu verunsichert, kann uns und unser Gepäck nicht einordnen.« David fängt an, den Sack und alle anderen Dinge abzustreifen, die wir mit so viel Sorgfalt zusammengetragen und -genäht haben, er zieht sogar sein T-Shirt aus, bis er nur noch in Hose und Schuhen dakniet. Ich lege ebenfalls den improvisierten Rucksack ab, lasse in Gedanken all die Dinge Revue passieren, von denen ich mich nun trenne. Meine Handtasche, meinen Teddybär,
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