Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot
Autoren: Daniela Widmer; David Och
Vom Netzwerk:
sieht nur Steine, Geröll. Aber sie haben ja mit Scheinwerfern die Hügel abgesucht. Irgendwo muss Militär sein.
    David schweigt und geht stur weiter. Sieht er denn nicht, dass es sinnlos ist? Ich fange an zu weinen, drehe mich um und suche im Mondlicht nach unseren Verfolgern. Wir sind in der Falle. Vor uns haben sich Taliban verschanzt, hinter uns sind die Suchtrupps.
    »Das ist gar kein Wachturm«, sagt David. »Es sind Felsen.«
    Ist das möglich? Haben wir den falschen Hügel erwischt? Aber ich bin sicher, dass der Scheinwerfer von dieser Kuppe aus gestrahlt hat. Meine Knie geben nach. Ich kann nicht mehr.
    »Die Basis ist da drüben«, sagt David und deutet auf eine schwarze, unförmige Masse, die auf dem Kamm des Hügels ruht. Der Umriss ist viel kleiner als erwartet. Oder ist er so weit entfernt?
    David hebt noch einmal die Taschenlampe und leuchtet dreimal kurz, dreimal … Ich weiß nicht, soll ich ihn bewundern oder bedauern? Immer wieder haben wir einander in diesen achteinhalb Monaten Kraft gegeben, und wenn die Lage vollkommen trostlos war, dann blieb da immer noch ein letzter Rest an Humor, ein fast irrwitziges Lachen, mit dem der eine den anderen jeweils aufgemuntert hat. Aber das ist kein Humor. David meint es ernst mit seiner kleinen, billigen Taschenlampe, diesem aus China importierten Schund, den Dumbo für ein paar Rupien auf dem Markt erstanden hat.
    Da erstrahlt plötzlich die ganze Kuppe. Wir sind in gleißendes Licht getaucht, geblendet, heben die Arme, schreien: »Don’t shoot us! Please, don’t shoot us! Help! Help!« Wir schreien wie irrsinnig durcheinander, und aus der Basis erschallen ebenso wirre Schreie, auf Paschtu, auf Urdu. Die Männer hinter den Wehranlagen scheinen genauso viel Angst zu haben wie wir.
    »Malgeri«, rufen wir, »malgeri, malgeri!« (was »Freund« auf Paschtu bedeutet), und gehen auf die Knie. David greift ganz langsam unter sein Hemd und legt das Messer ab. »Du musst deinen Hut abnehmen, zeig ihnen dein Haar!«, ruft David. Wir hatten das hundert Mal besprochen. Ich setze langsam meine grüne italienische Militärmütze ab und sage: »Meine Haare sind offen.« Sie haben uns im Visier. Wenn ich eine falsche Bewegung mache …
    David hat seinen Sherwani abgelegt. Er kniet jetzt in T-Shirt und mit erhobenen Armen in dem hell erleuchteten Geröll. Mit seinem langen Bart sieht er aus, als wollte er sich zum Gebet niederwerfen. »Mein Hemd habe ich ausgezogen, mein Messer entfernt«, ruft David mir zu, entsprechend unserer Checkliste.
    »Gut«, antworte ich, »es ist 2   Uhr   47, wir haben noch drei Stunden, ehe es hell wird.«
    Dann lege ich ebenfalls den Sherwani ab und knie im T-Shirt da. Wir erwarten, dass der Mann am Scheinwerfer einen Kameraden schickt, um uns zu durchsuchen, doch nichts geschieht. Wir knien da, im böigen Wind, im gleißenden Licht, das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich werfe wieder einen Blick auf meine Uhr: 2.50   Uhr. Vor zwanzig Minuten ist Ade in den Innenhof getreten, um ihr sechstes Gebet zu verrichten. Spätestens jetzt hat man das offene Tor entdeckt. Ist sie an unsere Tür gelaufen? Hat sie Dumbo, ihren Sohn, geweckt? Sicher. Die Taliban sind alarmiert. In drei Stunden wird es hell, und wir werden kilometerweit zu sehen sein.
    Der große Scheinwerfer schwenkt von der Hügelkante hinüber auf die andere Seite. Immer wieder kommt der Lichtstrahl zu uns und wandert dann auf die Gegenseite, während ein Scheinwerfer permanent auf uns gerichtet bleibt. Zwei weitere suchen minutenlang die gegenüberliegende Hügelkette ab. Was soll das? Wollen sie uns einen Weg weisen? Aber wieso sollen wir uns entfernen von dem Fort? Wieso sollen wir ins nächste Tal hinabsteigen? Begreifen sie denn nicht, dass wir hineinwollen? Dass wir ihren Schutz suchen?
    Der Scheinwerfer ist unbeirrbar. Er zeichnet uns einen Weg vor, wir setzen uns langsam in Bewegung, das Flutlicht wirft harte Konturen über das Geröll, leuchtet jeden Stein, jede Senke aus.
    Das Gepäck ist immer noch schwer, aber wir stürzen nicht mehr so oft. Etwa zehn Minuten lang folgen wir der Spur, die uns der Lichtkegel legt, wir überqueren die Kuppe und steigen wieder bergab. All die Mühe, die wir uns gemacht hatten, um diesen verfluchten Geröllhügel hinaufzukommen, war umsonst. All die potenzielle Energie, die wir erzeugt haben, durch Verbrennung von Kohlehydraten und Sauerstoff in unserer Muskulatur, unter Erzeugung von Wärme und Milchsäure, war vergeudet.
    Wir erkennen im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher