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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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klar, dass mein Leben nie mehr so sein kann wie zuvor. Ich hatte die Welt durch eine rosa Brille gesehen. Glücklich, meistens lächelnd, war ich durch die Tage gegangen. Zwar war mir schon früh bewusst, dass wir ein privilegiertes Leben führten, aber wie privilegiert wir sind mit unserer Sicherheit, Freiheit, Selbstbestimmung, aber auch mit unserem materiellen Wohlstand, das weiß ich erst heute.
    Vor einigen Wochen habe ich eine Sendung mit Entführungsopfern gesehen. Ein Mann, dessen Entführung dreißig Jahre zurücklag, sagte, er habe lebenslänglich erhalten, seine Entführer dagegen seien wieder auf freiem Fuß und lebten unbeschwert in derselben Stadt wie er. Vermutlich stimmt das, vermutlich haben auch wir lebenslänglich. Wenn ich morgens aufstehe, steht mir augenblicklich die Entführung wieder vor Augen. Ich versuche, diese Erfahrung in mein Leben zu integrieren, sie anzunehmen und sie »lieb« zu gewinnen. Soweit dies möglich ist. Das hört sich vielleicht alles sehr befremdend und unverständlich an. Aber ich habe keine andere Wahl, ich muss die Entführung als einen Teil von mir akzeptieren, denn auslöschen kann ich sie nicht. In Gedanken bin ich mehrmals täglich in Pakistan, bei den Frauen und Kindern, aber auch bei unseren Bewachern. Meine Finger tippen jeden Tag einen Begriff im Zusammenhang mit Pakistan in eine Suchmaschine ein. Ich suche unsere Bewacher und habe einige auch gefunden, zum Beispiel in Propaganda-Videos. Wenn ich Nachrichten empfange, z.   B. über Wali-ur Rehman oder den deutschen Taliban Schmatulla, die inzwischen beide bei Drohnenattacken ums Leben gekommen sind, dann stehen diese Menschen wieder in aller Deutlichkeit vor mir. Ich fühle mit ihren Frauen und Kindern, deren Existenz jetzt noch schwieriger sein wird, ich spüre aber auch wieder unsere Todesangst und empfinde wiederum Dankbarkeit, dass die Drohne diese Männer nicht in dem Moment ins Visier nahm, als sie bei uns waren.
    Es ist mir wichtig geworden, Bücher über diese Region zu lesen, um besser zu verstehen, was uns angetan wurde. Auch habe ich Kontakt zu verschiedenen Familien aufgenommen, deren Kinder, Männer oder Frauen entführt sind. Ich versuche, ihnen Hoffnung zu geben und Einblicke in die Luftschloss-Überlebenskünste einer ehemaligen Entführten. Jeden Tag schaue ich im Internet, ob diese Opfer inzwischen frei sind, oder ob wenigstens ein Video eingegangen ist, und anschließend schreibe ich den Angehörigen wieder, spreche ihnen Mut zu.
    Zudem versuche ich nach wie vor, Kontakt zum Doktor aufzunehmen, um ihm unseren Dank auszusprechen. Er soll schon kurz nach unserem Zusammentreffen freigekauft worden sein und sich anschließend – entsprechend unserem gegenseitigen Versprechen – für unsere Befreiung engagiert haben..
    Oft werden wir gefragt, ob wir keinen Hass verspürten. David und ich hatten in Pakistan besprochen, dass wir, sobald wir im Flugzeug Richtung Heimat sitzen, alle Wut symbolisch aus dem Fenster werfen wollen. Das haben wir schluchzend, unter Tränen getan. Seitdem bin ich frei von Ressentiments oder Hass. Mit diesen negativen Gefühlen würde ich nur mir und meinem Umfeld schaden.
    Trotzdem ist mir bewusst, dass eine Entführung eines der größten Verbrechen ist und dass es dafür keine Rechtfertigung gibt. Manchmal habe ich in diesen Innenhöfen gedacht, ich sei bereits tot. Es gab Momente, in denen ich glaubte, durchzudrehen, auch wenn ich es stets schaffte, dies nach außen nicht zu zeigen, denn ich war umzingelt von bewaffneten Bewachern. Dann habe ich mir gesagt, dass ich knapp dreißig Jahre alt bin, und selbst wenn ich mehrere Jahre gefangen sein sollte, so würden immer noch vierzig, fünfundvierzig Jahre Freiheit in der Schweiz auf mich warten, ich würde Kinder haben und mir alle meine Träume erfüllen können. Ich versuchte, die Situation zu ertragen und von den Einblicken in eine uns bis dato verborgene Welt zu profitieren.
    Die Zustände in Waziristan sind für uns westliche Menschen schlichtweg unvorstellbar. In der Generation von Dumbos Mutter haben alle Familien mehrere Söhne verloren, im Krieg gegen die Sowjetunion, im darauffolgenden Bürgerkrieg in Afghanistan oder später im Kampf gegen die Amerikaner und ihre Verbündeten. Viele sind von Bomben getötet, manche in pakistanischen Sondergefängnissen zu Tode gequält worden. Hinzu kommen die Jungen und Mädchen, die am Mangel an Hygiene, medizinischer Versorgung oder den elementarsten Regeln der
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