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Und Freunde werden wir doch

Und Freunde werden wir doch

Titel: Und Freunde werden wir doch
Autoren: Sabine Jörg
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Schienbein. Mama verliert das Gleichgewicht. Während sie fällt, schlägt der zweite ihr ins Gesicht. Ihre Nase blutet. Die Männer sind weg. Patricio beginnt aufzuräumen.
    Warum ist das alles geschehen? Warum hat Mama immer nur befohlen: Schweigt! Kein Wort mehr darüber! Warum haben Mama und Papa damals nicht gesagt, daß Papa flüchten würde? Bei Nacht und Nebel ist er abgehauen. Warum hat er sie nicht mitgenommen, warum durften sie erst so viel später nachkommen? Es gab kein »Adios«, kein »Hasta pronto«, und jetzt, hier, nach der langen Trennung ist Papa nicht mehr wie früher. Den Papa von früher gibt es nicht mehr, der ist wortlos gegangen und nie mehr zurückgekommen. Das richtige Leben hat aufgehört, als Papa sie in Valparaíso in Stich ließ. Mama hat viel später - und viel zu spät - erklärt, daß Papa unbedingt flüchten mußte, daß er sonst wahrscheinlich ermordet worden wäre von Pinochets Soldaten. Hundertmal hat sie versucht, klarzumachen, daß es keine andere Wahl gab, und hundertmal hat er es nicht verstanden.
    Die Jahre, die sie in München wieder Zusammenleben, haben nichts wieder gutgemacht. Alles ist nur noch schlimmer geworden, wie ein bedrückender Traum, aus dem man schnell aufwachen will. Papa stand am Flughafen und holte sie ab. Er rauchte, früher hat er nie geraucht, sein Gesicht war aufgedunsen, das Lächeln irgendwie fremd. Felipe sagte, was alle dachten: »Das soll Papa sein?«
    Es gab Zank und Streit. Mama fror. Sie fror bei Kälte, und sie fror bei Wärme. Sie sprach kein Wort Deutsch und traute sich nicht aus der Wohnung. Papa wurde immer gereizter. Er arbeitete, er erledigte alles andere, den Einkauf und die Gänge zu Behörden. Er schimpfte, und er schlug sogar einmal zu.
    Ein alter Mann tippt Ronni mit seinem Stock an, er will sich setzen. Ronni sieht den Alten einen Moment entgeistert an, dann springt er auf.
    »Die Bilder im Kopf muß man loswerden. Es hat keinen Zweck, sie zu unterdrücken, und es hat auch keinen Zweck, sie zu stark werden zu lassen.« Alberto hat das gesagt, und er hat recht. Von den alten Bildern muß man sich lösen, am besten, man verliert sie während einer Straßenbahnfahrt.
    Ronni sieht aus dem Fenster. An der übernächsten Haltestelle muß er aussteigen. Bald wird Mama vom
    Putzen nach Hause kommen, da will er schon in der Küche sein und das Abendbrot vorbereiten.
    In der Spüle findet Ronni drei Eßteller und zwei Kaffeetassen. Er wäscht das Geschirr ab und überlegt, wer wohl dagewesen ist. Hoffentlich nicht die Frau vom Sozialamt. Daß er selbst Besuch hatte, darauf käme er nie im Leben. Außer Huynh, dem vietnamesischen Jungen, der unter ihnen wohnt, und zwei Kindern aus anderen chilenischen Familien gibt es niemanden, der nach Ronni fragen würde. Aber die anderen Chilenen wohnen weit weg, und Huynh spricht kaum Deutsch. Felipe versucht, seinen Bruder mit einem lauten »Uu-aaah« zu erschrecken. Aber Ronni lächelt nur gequält: »Kannst dir mal was Neues einfallen lassen.«
    »Du hattest Besuch!« Felipe sieht Ronni stolz an. Ronni läßt die Spülbürste fallen und fragt ungläubig: »Ich?«
    »Ja, du! Sie heißt Sandra, und sie wollte dir die Hausaufgaben bringen!«

4

    Es riecht nach frischem Gras und ein wenig nach Sommer. Mitten in die Stadt ist Landluft geweht. Sandra zieht sie tief ein. Sie macht ihre Lungen ganz voll Luft, um das komische Gefühl im Magen zu verdrängen. In Sandras Magen kribbelt es.
    Sandra ist auf dem Schulweg. Er führt sie durch ein kleines Gäßchen, über eine Wiese auf die befahrene Plinganserstraße. An dieser Stelle wird Sandra normalerweise erst richtig wach. Autos rasen noch bei Rot über die Ampel, Motorräder überholen mit aufbrausendern Maschinengejaule, die Straßenbahn quietscht, und Fußgänger hasten in verschiedene Richtungen. Die Wachheit, die Sandra hier überkommt, verwandelt sich oft in ein Gefühl der Fremdheit, in das unbestimmte Empfinden, nicht dazuzugehören. Doch heute ist alles anders. Zwar überquert Sandra wie jeden Tag die Plinganserstraße, aber sie nimmt das Verkehrsgetose um sich herum nicht wahr. Ihre Gedanken eilen voraus. Heute, das spürt Sandra genau, wird Ronni wieder in der Schule sein.
    Was er wohl sagt? Hoffentlich ist er nicht sauer, weil ich ihn besuchen wollte. Hoffentlich hat Felipe nicht gepetzt!
    Sandra probt in Gedanken verschiedene Verhaltensmöglichkeiten durch:
    Ich muß versuchen, ganz normal zu tun, so, als hätte ich ihm eben die Hausaufgaben
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