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Und Freunde werden wir doch

Und Freunde werden wir doch

Titel: Und Freunde werden wir doch
Autoren: Sabine Jörg
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oder gar beim Schrotthändler abgeladen wurden. Wie eh und je rumpelt und quietscht die 16 den vorgegebenen Schienenstrang entlang und zieht regelmäßig einen Rattenschwanz von Autos hinter sich her.
    Wer vom Anhänger der Straßenbahn aus auf die Autofahrer hinunterblickt, der kann mißmutige Menschen sehen, die die Hände in die Luft strecken, sich die Haare raufen und schimpfen. Die Leute in der Straßenbahn dagegen zuckeln geduldig der nächsten Haltestelle entgegen. Sie sitzen auf harten Holzsitzen, kehren den Autofahrern den Rücken zu und schauen gelassen nach draußen, sie haben Zeit.
    Schon seit Stunden sitzt Ronni in der 16. Er fährt bis zur Neurieder Straße und wieder zurück zum Gondrellplatz, dann wieder bis zur Neurieder Straße und wieder zum Gondrellplatz zurück. Manchmal steigt er am Harras aus und wartet auf die nächste 16, meist fährt er jedoch gleich weiter. Oft bemerkt er nicht einmal, daß schon wieder die Endstation erreicht ist, denn Ronni ist mit seinen Gedanken weit, weit weg.
    Bisher hat ihn niemand angesprochen, niemand wollte seine Fahrkarte sehen. Und Ronni selbst hat anderes im Kopf, als sich über das Schwarzfahren Gedanken zu machen. Er sitzt hinten, auf dem letzten Platz im Anhänger, und sieht an den vorbeigleitenden Häuserfronten hoch. Seine Augen wandern über den stahlblauen Himmel, umrunden die leuchtend weißen
    Kumuluswolken, und ihm kommen Bilder in den Sinn, die er schon lange vergessen hatte.
    Er sitzt auf dem Schoß seines Vaters in einem völlig überfüllten Bus. Er ist vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Es ist heiß, er schwitzt und jammert. Der Vater zeigt aus dem Busfenster, deutet auf eine alte Straßenlaterne oder eine bemalte Hausfassade, versucht ihn abzulenken. Der Bus ist schlecht gefedert, die Straße holprig. Durch die offenen Fenster strömt fauliger Fischgeruch in das Wageninnere. Bald sind sie am Hafen, und der Vater wiederholt: »Mira, Ronni, schau, Ronni.« Er zeigt auf die vielen Schiffe, die dort liegen, er streicht ihm über die Haare, Ronni spürt seinen Atem. Wohin ging die Fahrt? Wo waren Mama und Patricio? War Felipe schon auf der Welt? An dieser Stelle versiegt die Erinnerung. Die Straßenbahn nähert sich wieder einer Haltestelle. Der Fahrer ruft in bestem Ober-bayrisch durch die Lautsprecher »Herzog Ernst«. Die automatischen Türen klappen auf, eine ältere Frau steigt ein, zwei andere Frauen aus. Ronni betrachtet den Kastanienbaum, der inmitten von Asphalt und Beton ein Plätzchen zugewiesen bekommen hat. Er steht in voller Blüte. Die Straßenbahn setzt sich wieder in Bewegung, der Kastanienbaum bleibt zurück.
    Ronni liegt auf der Couch, zu Hause im Wohnzimmer, in Valparaíso. Er ist krank. Oma sitzt bei ihm und hält ihm die Hand. Man sieht ihr nicht an, daß sie bald sterben wird. Sie flößt ihm Saft und auch Mut ein, sie summt die Melodie eines Indio-Liedes. Sie erzählt Geschichten von früher, es sind spannende Geschichten, die alle traurig enden. Mama schimpft mit Oma. Sie soll ihm nicht diese grausamen Dinge erzählen. Doch als Mama die Tür hinter sich schließt, bittet und bettelt er, bis Oma wieder zu reden beginnt: Die spanischen Eroberer haben die Indianer niedergemetzelt, verraten und verhöhnt. Sie haben ihnen das Land und das Leben genommen. Bestialischer als Raubtiere waren sie. Er phantasiert, er hat Fieber. Muß ich sterben? Muß ich sterben? Oma streicht ihm über die Stirn und küßt ihn gesund.
    Die Straßenbahn zuckelt die Ganghoferstraße entlang, am Messegelände vorbei, dann biegt sie links in die Kazmairstraße ein. Kazmair, wer war das? Ein General? Ein Sänger, Mathematiker? Bestimmt kein netter Mensch. Kazmair könnte er geheißen haben, der Soldat, der Mama schlug. Das Quietschen der Straßenbahn geht über in Felipes Schreien.
    Felipe brüllt wie am Spieß und läßt sich nicht beruhigen. Es sind drei - drei Soldaten, die in der Wohnung wüten. Alle Schubladen ziehen sie heraus, kippen den Inhalt auf den Boden, wühlen mit ihren Stiefeln in Unterwäsche und Handtüchern. Sie finden nicht, was sie suchen, sie werden wütend, werfen mit Tellern nach Patricio, der Brotkasten fliegt durch das Zimmer, die Vase zersplittert. Im Schlafzimmer schneiden sie die Matratzen auf, reißen die Kleider samt Kleiderstange aus dem Schrank, stürzen sich auf Papas einzigen Anzug, doch in keiner der Taschen finden sie etwas, nicht mal ein Taschentuch. Sie kommen zurück in die Küche, einer tritt Mama vor das
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