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Und Freunde werden wir doch

Und Freunde werden wir doch

Titel: Und Freunde werden wir doch
Autoren: Sabine Jörg
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er alle töten, und dann kommt er zurück, und Tante Hortensia braucht nicht mehr zu weinen.«
    Sandra ist von der Schaukel gerutscht und sieht Felipe betroffen an:
    »Seid ihr deswegen aus Chile weggegangen? Damit deinem Vater so etwas nicht passiert?«
    Felipe bemerkt nicht, wie erschrocken Sandra ist. Er redet einfach weiter: »Meinst du, wir sind aus Spaß hierhergekommen? Papa war doch Lehrer. Er durfte nicht mehr unterrichten. Da hat Mama gesagt, er soll lieber aus Chile raus, bevor sie mit ihm das machen, was sie mit Onkel Manuel gemacht haben. Aber Mama und wir sind erst später nachgekommen, als Papa hier schon arbeiten durfte. Jetzt sind wir in München, und ich will nie mehr nach Chile zurück!«
    Felipe hat sich in die Schaukel gesetzt. Mit den Beinen holt er kräftig Schwung. Immer höher schwingt er, Sandra steht daneben und schaut ihm gedankenverloren zu:
    Davon hat Ronni nie etwas erzählt. Zum erstenmal läßt sie einem Gedanken an Ronni wieder freien Lauf. Sie betrachtet den gelben Löwenzahn, der sich durch die Ritzen zwischen den Steinplatten hindurch einen Weg zum Licht ertrotzt hat.
    Wie das Leben in Chile wohl war?
    Es ist schwer, sich etwas vorzustellen, was man nicht kennt. Von Chile weiß Sandra, daß es an der Westküste Südamerikas liegt, daß es ein langes schmales Land ist, und das ist schon alles. Doch daß die Menschen dort Spanisch sprechen, das weiß sie natürlich auch noch - von Ronni.
    Ob Ronni wohl Krach zu Hause hatte? Hoffentlich hat Felipe seiner Mama nicht erzählt, daß Ronni die Schule geschwänzt hat.
    Sie könnte ihn ja danach fragen. Aber das mag sie jetzt nicht. Bloß nicht mehr auf Ronni zu sprechen kommen, denkt sie. Das fällt auf.
    Sandra schaut zu einem Fenster im zweiten Stock hoch. Daß dahinter Körners Küche ist, kann man von unten nicht erkennen, aber Sandra sieht sie genau vor sich, am deutlichsten die alten Hängeschränke mit den beigebraunen Schiebetüren. Wenn man aus der linken Seite eine Tasse holt, ist die rechte Hälfte des Schranks versperrt. Wenn man rechts die Zuckerdose herausnimmt, kommt man an die Teekanne, die links steht, nicht heran. Es ist ein ewiges Hin- und Hergeschiebe. Auch der Schrank unter der Spüle ist nach diesem platzsparenden, aber nervtötenden Schiebeprinzip gebaut. Immerhin haben dadurch noch die Eckbank und der Tisch in der Küche Platz. An diesem Tisch sitzen die drei Körners täglich und essen ihr Abendbrot, und dort werden nicht selten politische Diskussionen abgehalten. Herr Körner läßt sich über die Asylanten aus, die man doch allesamt rausschmeißen sollte. Frau Körner fällt ihm ständig ins Wort, um seine Ansichten zu erhärten: Was die bei uns wollen, das weiß man ja nun bestens. Schamlos nutzen sie den Sozialstaat aus.
    Wenn diese politischen Küchendebatten bei Körners ablaufen, zieht sich Sandra meist in ihr Zimmer zurück. Einige Male hat sie widersprochen, Einwände erhoben, aber ihre Eltern haben zu zweit auf sie eingeredet und ihr Ahnungslosigkeit und Naivität vorgehalten.
    Sandra versteht nicht, warum ihre Eltern sich über Menschen aufregen, die sie überhaupt nicht kennen. Es bedrückt sie, daß ausgerechnet ihre Mutter und ihr Vater, denen es finanziell nicht schlechtgeht, so bösartig über andere herziehen. Dabei droht kein Türke, dem Vater den Arbeitsplatz abspenstig zu machen, kein Tamile wird sie zur Räumung der Wohnung zwingen, kein Afrikaner kauft ihnen das letzte Brot vor der Nase weg.
    Und jetzt, hier unten auf dem Spielplatz, spürt Sandra plötzlich ein Unbehagen, ein Gefühl, als könnte Felipe ihre Gedanken lesen. Um sich selbst und auch Felipe auf andere Gedanken zu bringen, fragt sie scheinbar ganz beiläufig: »Wo arbeitet denn dein Vater?«
    Felipe springt mit Schwung von der Schaukel und landet mitten im Sandkasten. Er wühlt das alte Laub auf, wirft es in die Luft.
    »Küchenhilfe ist er, bei Siemens in der Großküche. Aber Patricio macht eine richtige Lehre: Elektrotechnik. Ganz toll.«
    Schon wieder Patricio! Sandra verkneift sich eine Bemerkung über den »tollen« großen Bruder, den Bruder, der sie überhaupt nicht interessiert. Statt dessen fragt sie noch einmal:
    »Wieso denn Küchenhilfe? Ich denke, dein Vater ist Lehrer?« Felipe zieht die Augenbrauen hoch: »Mensch, du hast echt keine Ahnung. Wir sind doch Asylanten! Mein Vater ist froh, daß er überhaupt einen Job hat.«
    Felipe gräbt mit der rechten Hand eine Höhle in den Sand. Mit der linken baggert er den
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