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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel
Autoren: Nick Cave
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Als nächster kam Nun, benannt nach seinem Vater, und im gleichen Jahr wurde Gad geboren. Ihm folgte bald Ezra. Dann kamen die drei kleinen Mädchen: Lee, Mary Lee und Mary. Danach Ezekiel. Der Blinde Dan. Der Kleine Fan, der mit dreieinhalb Jahren starb. Angel, die mit vierzehn schon drei eigene Kinder hatte. Als nächstes kam Batho, gefolgt von Ben, der früh verstarb – ein kränkelndes Kind mit einem nie diagnostizierten angeborenen Leiden, das der kleine Zweijährige nicht abschütteln konnte.
    Euchrids Vater Ezra war demnach der sechste in einem scheinbar endlosen Strom plärrender rotznäsiger Nachkommen. Nach seiner Flucht vor den gnadenlosen Kopfgeldjägern, die im Gefolge von Sheriff Cogburnes berüchtigter Säuberungskampagne die Berge terrorisierten, änderte er 1925 seinen Namen von Morton in Eucrow um.
    Schon seit seinem zehnten Lebensjahr hatte Ezra unter dem Joch der inzestuösen Praktiken seiner Verwandtschaft zu leiden. Der Stammbaum seiner Familie war so wirr und verwickelt wie das Dornengestrüpp, das die Berge erstickte. Rasende Kopfschmerzen, epileptische und katatonische Anfälle, Trancezustände und ständige Gewaltausbrüche waren an der Tagesordnung. Ob dies an der Blutsverquickung seiner Vorfahren lag oder nicht, vermochte er nicht zu sagen.
    Die Frage der Vererbung lastete schwer auf dem gottesfürchtigen Ezra, der große Teile der Schrift auswendig herzusagen wußte – die Bibel war nämlich das einzige Buch, das seine Mutter im Haus duldete, und Ezra war der einzige von ihrer Nachkommenschaft, dem sie erfolgreich das Lesen beigebracht hatte. Wie auch immer, sollte Ezra mit schlechtem Blut behaftet gewesen sein, so trat dies jedenfalls nicht zutage.
    Denn der junge Ezra litt nicht an den verräterischen Makeln, mit denen seine Geschwister gezeichnet waren – die sie auf ihren Gesichtern trugen, die ihre Sprache verlangsamten und sich in ihrer Körperhaltung mitteilten. Tatsächlich war Ezra alles andere als häßlich, die so lange praktizierten Unbesonnenheiten seiner Vorfahren hatten sein Äußeres nicht entstellt. Er hatte einen kräftigen Rücken und gerade Beine und einen schönen dunklen Haarschopf.
    Seine Zähne waren gewiß zu groß und zahlreich, aber doch stark genug, und seine Augen, seine blauen Augen, ein wenig blaß, ein wenig wild, waren trotz gelegentlicher Anfälle und Trancezustände in keiner Weise geschwächt. Weder schielte er wie Gad, noch war er blind wie Dan, noch hatte er einen Silberblick wie die kleine Angel.
    Damals hatte die alte Ma Morton noch die Aufsicht. Die beiden ältesten, Luther und Er, ließen sich noch in Zaum halten und trugen zum Beweis dafür die Striemen ihrer Züchtigung. Ma herrschte über die Brut so gütig wie Moses, schritt in ihren Stiefeln auf der Veranda auf und ab, in einer Hand die Nesselpeitsche, in der anderen den Topf mit rotem Pfeffer, schritt auf und ab, um zuweilen haltzumachen und in den Busch zu brüllen: »Luuuther!« oder »Eeer!« … damals, vor dem Apfelschnaps, vor der Schrotflinte, vor den blutigen Razzien in der Morton Range.
    Vom Fusel der Berge und den Dünsten geklauten Benzins, das sie aus Marmeladendosen schnüffelten, in den Wahnsinn getrieben, waren Luther und Er nur mehr geifernde Irre. Gepeinigt von Zahnschmerzen, Gebirgspocken und dem abscheulichen Jucken der Krätzmilbe – dieser Schmarotzer verfolgte die Mitglieder der Morton-Familie bis in ihre diversen verlausten Gräber –, heulten sie im Duett wie sterbende Hunde. Aus tiefster Verzweiflung in scheußlichste Gewalttätigkeit ausbrechend, suchten die Brüder sich von ihrem Unbehagen zu erleichtern, indem sie ihre dummen sabbernden Schwestern brutal und mit vorgehaltener Waffe vergewaltigten und so zu Müttern von Bastarden machten.
    An dem Tag, bevor Sheriff Cogburne und zwanzig Männer den ganzen Morton-Clan zusammentrieben, schlugen Luther und Er sich bei einem Faustkampf gegenseitig tot. An diesem Tag schlich Ezra sich aus dem Haus und nahm das Maultier, die Bibel, Ers Schrotflinte und eine Tasche voll Munition mit; er spürte es in den Knochen, daß eine Katastrophe bevorstand.
    Ezra zapfte noch einen ganzen Liter Schnaps aus der Destille, stahl sich dann in den hohen Forst und stieg, das Maultier an der Leine und das Gewehr auf der Schulter, ins Tal hinab.
     
    Man schrieb das Jahr 1925.
     
    Und Ezra, der Sohn Nuns, ging ins Tal, und eine Wolke senkte über das Tal.
    Und Ezra säumte nicht unter dem Schatten, sondern ging weiter bis der Schatten
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