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Und der Wind bringt den Regen

Und der Wind bringt den Regen

Titel: Und der Wind bringt den Regen
Autoren: Eric Malpass
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Adresse, an die er in den vergangenen vierzig Jahren immer wieder hatte denken müssen.
    Es war ein altes Haus, das die Bombenangriffe überdauert hatte: ein graues Gebäude mit schmalen Türen und Fenstern, das sicher noch aus der Kaiserzeit stammte. Äußerlich ruhig und gefaßt, doch innerlich zutiefst erregt und mit laut klopfendem Herzen stand er vor der Eingangstür mit dem kleinen blauen Schild: 19. Unter dem Nummernschild hing eine Tafel mit den Namen der Hausbewohner, einer davon auf einer angestaubten, etwas vergilbten Visitenkarte - ein Dr. med. -, die übrigen mit der Hand geschrieben auf kleinen zurechtgeschnittenen Zetteln. Ganz oben stand der Name S. Braun. Aber das S war durchgestrichen und durch ein U ersetzt worden. Er merkte, wie er zitterte.
    Er ging die schmale steile Treppe hinauf. Auf dem ersten Absatz blieb er stehen und holte tief Luft. Schon als vierjähriger Junge war er stämmig und untersetzt gewesen; jetzt war er Mitte Sechzig, und das Treppensteigen war nicht gerade seine Stärke. Dazu kam die Aufregung... Er ärgerte sich über sein Keuchen.
    Die nächste Treppe nahm er wie ein Dreißigjähriger. Aber oben im zweiten Stock mußte er sich am Geländer festhalten; der Boden schwankte unter ihm wie ein Schiff im Sturm. Das machte ihm etwas angst. Wenn schon ein Herzanfall, dann doch bitte zu Hause und nicht ausgerechnet hier, dachte er wütend. Er ruhte sich ein wenig länger aus und stieg die nächste Treppe langsam hinauf.
    Jetzt war er im dritten, im obersten Stockwerk angelangt. Der Flur war hier niedriger und kahler, und die drei Wohnungstüren waren einfacher als in den unteren Etagen. Jede war mit einem Namensschild versehen. G. Schmidt, A. Müller, U. Braun.
    Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und preßte die Schultern und den Hinterkopf an die abblätternde braune Farbe. Durch das unsaubere Oberlicht im Dach sah er den grauen Himmel. In diesem Augenblick wäre er am liebsten davongelaufen, wie ein kleiner Junge, schnell die Treppen hinunter und zurück in die buntere, fröhlichere Hälfte der Stadt. Es war der helle Wahnsinn - was hatte er, ein englischer Bankdirektor im Ruhestand, in einem Mietshaus in Ostberlin zu suchen? Er gehörte nach Bournemouth oder an die Costa Brava - oder in einen Autobus mit fünfzig anderen Engländern, die die Strada del Sol hinunterfuhren. Er hatte eine der wichtigsten Regeln für reisende Engländer außer acht gelassen: Wenn schon ins Ausland, dann nur in einer Gruppe.
    Aber er blieb, wo er war. Langsam kam er wieder zu Atem. Er war kein Held, gewiß nicht, aber was er sich vorgenommen hatte, das brachte er auch zu Ende. Er drückte auf den Klingelknopf neben ihrer Tür.
    Es überraschte ihn, daß ihm sofort geöffnet wurde - als ob sie mit der Hand auf der Klinke hinter der geschlossenen Tür gestanden und auf sein Klingeln gewartet hätte.
    Nein, sie war nicht mehr das wunderschöne frische blonde Mädchen von einst. Ernst, schön und fast zierlich stand sie vor ihm. Das goldblonde Haar war schneeweiß geworden, das Gesicht fast durchsichtig blaß. Angst stand in den Augen, die ihn ausdruckslos anstarrten.
    «Ulrike!» sagte er. «Kennst du mich noch? Ich bin Benbow Dorman.» Er sagte es leise, behutsam, und auf englisch.
    Die Angst wich nicht aus ihren Augen. Sie stand sprachlos da, ihre Hand hielt die Türklinke umklammert. Sie trug ein dunkles Kleid und einen grauen Schal dazu.
    Sie erinnerte sich nicht mehr an ihn! «Es ist... schon lange her», sagte er stockend. «Bei Tante Mabel, weißt du nicht mehr? Ich bin Benbow Dorman.»
    Sie schien ihn mit ihrem Blick durchdringen zu wollen. Dann trat sie einen Schritt zurück und sagte: «Komm herein.» Aber sie blieb so stehen, daß er nicht an ihr vorbei konnte.
    Jetzt hob sie langsam die schmalen Hände und legte sie um sein Gesicht. Ein Lächeln trat auf die ernsten Lippen, und Freude flackerte in ihren Augen auf. Benbow, der sonst nach Möglichkeit jeder Gefühlsregung aus dem Wege ging, war den Tränen nahe. Nie hatte er etwas Schöneres gesehen als dieses Lächeln: zärtlich, traurig und so blaß und flüchtig wie die Wintersonne über den Hügeln. Es war das Lächeln einer Frau, die das Lächeln verlernt hatte.
    «Benbow!» sagte sie, und ihre Stimme hatte fast den alten vertrauten Klang. «Der liebe Benbow! Aber... wieso...» Sie sprach wie jemand, den man aus einem langen tiefen Schlaf geweckt hat.
    «Ich... wollte nur sehen, wie es dir geht», sagte er und kam sich plötzlich
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