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Und der Wind bringt den Regen

Und der Wind bringt den Regen

Titel: Und der Wind bringt den Regen
Autoren: Eric Malpass
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konnte sie jemanden um Hilfe rufen, irgendjemand mußte Oma Bescheid sagen.
    Sie hatte erwartet, ganz Ingerby würde in Trümmern hegen, aber sie sah in dem Mondlicht nur ein paar abgedeckte Dächer. Die Straße war leer und mit Trümmern übersät, an einigen Stellen brannte es.
    Da kam jemand! Ein Luftschutzwart mit Stahlhelm lief geduckt die Straße entlang. Sie wollte ihm zurufen, er solle sich um Oma kümmern. Dann würde sie sich auf Benbows Bett hocken, das Kinn auf die Knie gepreßt, die dicke Bibel fest in den Armen, und darauf warten, daß die Stunde der Heimsuchung endlich vorüberging. An den Tod dachte sie mit keinem Gedanken.
    Sie versuchte, das Fenster zu öffnen. Ihre Hände zitterten und waren zu schwach. Sie zerrte am Fenstergriff. Jetzt war der Mann genau unter ihrem Fenster. Sie schrie und schlug mit den Fäusten an die Scheibe. Aber der Mann lief weiter, ohne aufzuschauen. Er hörte ihre Schreie nicht. Sie riß wieder am Fenstergriff, und plötzlich ging das Fenster auf. «Hilfe!» schrie sie. «Hilfe!» Aber der Mann war schon zu weit weg — sie sah, wie er um die Ecke bog und entschwand. Sie beugte sich aus dem Fenster und blickte hinab: fünf Meter, und der Weg unten war gepflastert. Unmöglich, hinunterzuspringen.
    Jetzt packte sie die Angst. Sie drückte die Bibel an sich und ging stolpernd und weinend auf Benbows Bett zu. Die Angst machte sie so klein und demütig, wie sie es noch nie in ihrem Leben gewesen war.
    Da war es, das Bett, wo sie so oft an hellen Sommerabenden und in der Kälte des Windes den kleinen Jungen in sein Nachthemd gehüllt und das weiche Gesichtchen geküßt hatte. «O Benbow, mein Liebling», murmelte sie mit geschlossenen Augen.
    Jetzt hörte sie ein langes, schrilles Pfeifen, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Es füllte das ganze Haus, es drang nicht nur in die Ohren, sondern in alle Poren, laut und gellend.
    Es hieß damals, das Pfeifen der Bombe, die für einen bestimmt sei, könne man nicht hören. Von der Bombe, die man höre, drohe keine Gefahr.
    Das Pfeifen brach ab. Totenstille. Und dann fuhr ein Blitz durch das Haus, heller als alle anderen, und ein heulendes Krachen folgte, und dann ein tosender Lärm. Ein draußen stehender Zuschauer hätte den Eindruck gehabt, daß sich das Haus Omdurman langsam hob, einen Augenblick in der Luft schwebte und dann polternd zu einem Trümmerhaufen zusammenfiel. Plüschsofa und Sessel, Muff und Moder, freudlose Strenge, Abende am Klavier, Tipperary und So nimm denn meine Hände, kalte Morgenfrühe, Sonntagabende, Familienweihnachten, Behaglichkeit und Langeweile und Zank, kleines Glück und liebe Erinnerungen - alles sank in Schutt und Asche. Ein Haus, das kaum je jubelnde Freude erlebt hatte, aber doch ein Heim, eine Zuflucht, ein Zuhause...
     
    Wo bleibt denn Nell so lange mit der Bibel, dachte Oma. Sicher hat sie jemanden getroffen und schwatzt.
    Ein paarmal meinte sie, Nell käme die Kellertreppe herunter. Aber Nell kam nicht. Und dann zuckte das elektrische Licht, und sie sah die weißblauen Blitze am Rande der Verdunkelung über der Kohlenrutsche. Es blitzte immer wieder. Es war also Fliegeralarm. Jetzt hatte sie Angst, und außerdem war sie ärgerlich. Was fiel Nell ein, einfach wegzugehen und sie hier allein zu lassen. Bei Fliegeralarm! Sie rief mit lauter Stimme: «Nell - Nell! Komm runter - Fliegeralarm!»
    Mit angezogenen Knien saß sie in ihrem breiten Bett und betete mit geschlossenen Augen. «... und die Macht und die Herrlichkeit, in Ewigkeit. Amen.» Sie öffnete die Augen. «Nell! Was machst du da oben?» rief sie klagend. «Nell!»
     
    Ein Bergungstrupp fand Lizzie am nächsten Morgen kurz nach zehn Uhr. Sie war verärgert, aber ihr fehlte nichts. Sie verlangte nach ihrem Porridge und ihrem Tee.
    Nell wurde nie gefunden. Als jemand bemerkte, daß sie nicht da war, hatten die Bulldozer schon die Trümmer weggeräumt. Ihr Grabmal waren die Weidenröschen und die gelben Primeln, die sich auf dem verwundeten Stück Erde ausbreiteten und bald die ganze Fläche bedeckten, wo einst das kleine Haus gestanden hatte.
     

27
     
    Hier ruht
    CRYSTAL DORMAN
     
    geboren 4. Juli 1914
    gestorben 1. März 1978
    geliebte Ehefrau
    von Benbow Dorman
     
    Der Steinmetz besah sich das Papier. «Wollen Sie nicht Ruhe sanft oder so etwas dazusetzen?» fragte er.
    «Nein», sagte Mr. Dorman.
    Der Mann sah ihn von der Seite her an. «Und auch nicht innig geliebte ?»
    Benbow Dorman überlegte und sagte noch einmal:
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