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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe
Autoren: Jodi Picoult
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seine Ausbildung in Exeter und später in Harvard war von Anfang an niemals in Frage gestellt. Und in seinem ersten Semester in Harvard fiel Nicholas dann auch auf, dass die Art, wie er erzogen worden war, nicht die Norm darstellte. Jeder andere junge Mann in seiner Position in diesem Moment hätte vielleicht die Gelegenheit ergriffen, sich die Dritte Welt anzusehen, oder er hätte sich freiwillig zum Friedenskorps gemeldet, doch das passte nicht zu Nicholas. Dabei war er weder desinteressiert noch herzlos, er war es einfach gewöhnt, eine bestimmte Art von Mensch zu sein. Und Nicholas Prescott, der von seinen Eltern immer und alles auf einem Silbertablett serviert bekam, gab ihnen als Gegenleistung das, was von ihm erwartet wurde: Nicholas war der Inbegriff eines perfekten Sohns.
    Nicholas war stets der Klassenbeste gewesen. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war er mit einer ganzen Reihe von schönen, blaublütigen Wellesley-Mädchen ausgegangen, und er hatte erkannt, dass sie ihn attraktiv fanden. Er wusste, wie man charmant sein und wie man Einfluss ausüben konnte. Seit er sieben war, hatte er gesagt, er wolle Arzt wie sein Vater werden, und diese Prophezeiung hatte er erfüllt und sich für Medizin eingeschrieben. 1979 machte er seinen College-Abschluss, seine Zulassung für das Medizinstudium musste zunächst noch warten. Zuerst reiste er durch Europa und genoss Affären mit zierlichen Pariserinnen, die Mint-Zigaretten rauchten. Dann kehrte er wieder nach Hause zurück und trainierte auf Drängen seines alten College-Trainers mit anderen hoffnungsvollen Sportlern auf dem Princeton Lake Carnegie für die Ruder-Ausscheidungswettkämpfe zu den Olympischen Spielen. Schließlich ruderte er auf Position Sieben des Achters der Vereinigten Staaten. Seine Eltern gaben am Wettkampfmorgen einen Brunch für ihre Freunde, tranken Bloody Mary und schauten zu, wie ihr Sohn die Silbermedaille gewann.
    Es kamen also mehrere Dinge zusammen, als Nicholas Prescott im Alter von achtundzwanzig Jahren mitten in der Nacht zitternd und schwitzend aufwachte. Er löste sich von Rachel, seiner Freundin – die ebenfalls studierte und vermutlich die klügste Frau war, die er je kennengelernt hatte –, und ging nackt zum Fenster, von wo aus man in den Hof seines Apartmenthauses schauen konnte. Im blauen Licht des Vollmonds lauschte er dem Verkehr auf dem benachbarten Harvard Square und streckte die Hände aus, bis das Zittern aufgehört hatte. Und er wusste, was sich hinter seinen Albträumen verbarg, auch wenn er es nicht zugeben wollte: Nicholas hatte sein ganzes Leben lang gegen das Versagen angekämpft, und nun erkannte er, dass seine Uhr abgelaufen war.
    Nicholas glaubte nicht an Gott – dazu war er viel zu sehr ein Mann der Wissenschaft –, aber er glaubte, dass irgendjemand oder irgendetwas seine Erfolge beobachtete, und er wusste, dass Glück nicht ewig hält. Immer häufiger dachte er an seinen Zimmergenossen im ersten Semester, einen dürren Jungen mit Namen Raj, der ein C+ in Literatur bekommen hatte und daraufhin vom Dach gesprungen war und sich das Genick gebrochen hatte. Wie hatte Nicholas’ Vater stets gesagt? Das Leben steckt voller Überraschungen.
    Mehrmals in der Woche fuhr Nicholas über den Fluss zum Mercy , dem Schnellimbiss an der JFK Street, denn ihm gefiel die Anonymität dort. Viele Studenten verkehrten dort, doch für gewöhnlich studierten sie weniger anspruchsvolle Fächer wie Philosophie, Kunstgeschichte oder Englisch. Bis zu diesem Abend hatte Nicholas noch nicht einmal gewusst, dass irgendjemand dort seinen Namen kannte. Aber der schwarze Kerl, der Wirt, kannte ihn, und auch diese Göre von Kellnerin, die ihm schon seit zwei Wochen nicht mehr aus dem Kopf ging.
    Sie glaubte, er habe sie nicht bemerkt, aber man konnte an der Harvard Med keine drei Jahre überleben, ohne seine Beobachtungsgabe zu schulen. Sie glaubte, sie sei diskret, doch Nicholas spürte die Hitze ihres Blicks, und er bemerkte, dass sie sich jedes Mal ein wenig länger als nötig über sein Glas beugte, wenn sie es auffüllte. Er war es gewohnt, dass Frauen ihn anstarrten, also hätte ihm das nichts ausmachen dürfen. Doch diese Kellnerin war noch ein Kind. Sie hatte gesagt, sie sei achtzehn, aber das konnte er nicht glauben. Auch wenn sie vielleicht ein wenig jung für ihr Alter aussah, konnte sie keinen Tag älter als fünfzehn sein.
    Und sie war nicht sein Typ. Sie war klein, hatte knochige Knie, und sie hatte rotes Haar, um Himmels
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