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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe
Autoren: Jodi Picoult
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sagte Lionel. Ich starrte Nicholas ständig an, aber er schien das nie zu bemerken, noch nicht einmal, wenn er gerade einmal nicht las und ich versuchte herauszufinden, was mich an ihm so verwirrte. Ich arbeitete seit genau zwei Wochen im Mercy , als ich es herausfand: Nicholas passte einfach nicht hierher. Er schien vor dem Hintergrund der alten, zerrissenen Vinylbezüge auf den Bänken förmlich zu glühen, und er hielt hier regelrecht Hof. Wenn er noch etwas zu trinken haben wollte, hob er einfach nur die Tasse, und wollte er zahlen, wedelte er mit einem Schein, und doch fand ihn keine von uns herablassend. Ich studierte ihn mit der Faszination eines Wissenschaftlers, und wenn ich mir Dinge mit ihm vorstellte, dann fanden die stets nachts auf Doris’ Wohnzimmercouch statt. Ich sah seine ruhigen, sicheren Hände und seine klaren Augen, und ich fragte mich, weshalb ich mich so zu ihm hingezogen fühlte.
    Ich hatte mich auch in Chicago bereits verliebt, und ich kannte die Konsequenzen. Nach alldem, was mit Jake passiert war, war es nicht eben meine Absicht, mich noch einmal zu verlieben – wahrscheinlich wollte ich mich sogar nie wieder verlieben. Und ich fand es kein bisschen sonderbar, dass schon mit achtzehn dieser weiche Teil in mir für immer zerbrochen war. Womöglich war das der Grund, warum ich nie darüber nachgedacht habe, Nicholas zu zeichnen, während ich ihn beobachtete. Und so hat die Künstlerin in mir ihn auch nicht sofort als Mann wahrgenommen: die Symmetrie seines Kinns oder die unterschiedlichen Schattierungen von Schwarz, wenn das Sonnenlicht auf sein Haar fiel.
    Ich beobachtete ihn auch beim ersten Kritzel-Suppen-Special – Lionel hatte darauf bestanden, es so zu nennen. Doris, die während des Mittagsansturms mit mir gearbeitet hatte, war früher nach Hause gegangen, und so war ich allein. Ich füllte gerade die Salzstreuer auf, als Nicholas hereinkam. Es war 23.00 Uhr, kurz bevor wir den Laden schlossen, und er setzte sich an einen meiner Tische. Und plötzlich wusste ich, was mit diesem Mann los war. Ich musste an Schwester Agnes in der Pope Pius Highschool denken, als sie mit dem Lineal auf die Tafel trommelte und darauf wartete, dass ich einen Satz mit einem Wort formulierte, das ich nicht kannte. Das Wort war Grandeur . Nervös war ich von einem Fuß auf den anderen getreten und hatte hinter mir die anderen Mädchen kichern hören. Mir fiel einfach kein Satz ein, und schließlich warf Schwester Agnes mir vor, wieder in meinem Heft herumgekritzelt zu haben, statt zuzuhören, was nicht stimmte. Doch in diesem Moment, während ich beobachtete, wie Nicholas seinen Löffel hielt und den Kopf neigte, da verstand ich, dass Grandeur nichts mit Adel oder Würde zu tun hatte. Grandeur war die Fähigkeit, sich in der Welt wohl zu fühlen und alles leicht aussehen zu lassen. Grandeur war das, was Nicholas hatte und ich nicht.
    Mit dieser Erkenntnis ging ich zum Tresen und begann, Nicholas zu zeichnen. Und ich zeichnete nicht nur sein Gesicht, sondern auch seine Leichtigkeit und Eleganz. Genau in dem Moment, als Nicholas in seiner Tasche nach dem Trinkgeld suchte, war ich fertig und trat einen Schritt zurück, um das Bild zu betrachten. Was ich sah, war jemand Schönes, vielleicht sogar schöner als alles, was ich bisher in meinem Leben gesehen hatte. Es war jemand, auf den andere zeigten und hinter dessen Rücken sie sich flüsternd unterhielten. Und an den geraden Augenbrauen, der hohen Stirn und dem energischen Kinn konnte ich deutlich erkennen, dass dieser Jemand dazu bestimmt war, andere zu führen.
    Lionel und Leroy kamen mit Resten in den Schankraum, die sie für ihre Kids mit nach Hause nehmen wollten. »Du weißt ja, was zu tun ist«, sagte Lionel zu mir, winkte mir zu und ging zur Tür. »Bis dann, Nick«, rief er.
    Und leise, sehr leise, korrigierte Nicholas ihn: »Ich heiße Nicholas.«
    Ich hielt das Porträt noch immer in der Hand, als ich hinter ihn trat. »Haben Sie etwas gesagt?«, fragte ich.
    »Nicholas«, wiederholte er und räusperte sich. »Ich mag es nicht, wenn man mich ›Nick‹ nennt.«
    »Oh«, sagte ich. »Wollen Sie noch etwas?«
    Nicholas schaute sich um, als bemerke er erst jetzt, dass er inzwischen der einzige Gast im Laden und die Sonne schon vor Stunden untergegangen war. »Ich nehme an, du willst schließen«, sagte er. Er legte ein Bein auf die Bank und verzog den Mund zu einem Lächeln. »Hey«, sagte er, »wie alt bist du eigentlich?«
    »Alt genug«, erwiderte
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