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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe
Autoren: Jodi Picoult
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keine Sorgen um mich«, sagte ich selbstbewusst. »Immerhin bin ich deine Tochter.«
    »Aye«, erwiderte mein Vater, »aber wie es aussieht, hast du auch was von deiner Mutter geerbt.«
*
    Nachdem ich zwei Tage im Mercy gearbeitet hatte, vertraute Lionel mir so weit, dass er mich den Laden abschließen ließ. In den umsatzschwachen Zeiten, zum Beispiel um drei Uhr nachmittags, ließ er mich am Tresen sitzen und bat mich, Porträts zu zeichnen. Natürlich habe ich die anderen gezeichnet, mit denen ich in der Schicht arbeitete – Marvela und Doris und Leroy –, und dann habe ich den Präsidenten, den Bürgermeister und Marilyn Monroe auf Papier verewigt. In einigen dieser Porträts waren Dinge, die ich nicht verstand. So war zum Beispiel in Marvelas Augen ein finsterer, leidenschaftlicher Mann zu sehen, der vom Meer verschlungen wurde, und in Doris’ Nacken hatte ich Hunderte von Katzen gezeichnet, die, wenn man sie der Reihe nach betrachtete, Menschen immer ähnlicher wurden, bis die letzte schließlich mit Doris’ eigenem Gesicht verschmolz. Und in den Rundungen von Marilyn Monroes verführerischem Arm waren nicht ihre Liebhaber zu erkennen, wie man hätte erwarten können, sondern Ackerland, Weizenfelder und die traurigen Augen eines Beagles. Manchmal fielen den Gästen des Mercy diese Dinge auf und manchmal nicht – die Bilder waren immer klein und subtil. Aber ich habe immer weiter gezeichnet, und jedes Mal, wenn ich fertig war, hing Lionel das Bild über die Kasse. Irgendwann erstreckte sich die Galerie dann durch den halben Laden, und mit jedem Bild, das dazukam, fühlte ich mich dort mehr daheim.
    Doris bot mir ihre Couch als Schlafplatz an, denn ich tat ihr leid. Ich erzählte ihr folgende Story: Mein Stiefvater habe sich an mich rangemacht, also hätte ich mir, kaum dass ich achtzehn geworden war, das Geld geschnappt, das ich mir als Babysitter verdient hatte, und sei dann auf und davon. Mir gefiel diese Geschichte, denn sie entsprach zumindest halb der Wahrheit – das mit dem achtzehnten Geburtstag und dem Geld. Und ein wenig Mitgefühl tat mir auch gut, denn damals nahm ich alles, was ich kriegen konnte.
    Es war Doris’ Idee, dass wir so eine Art Spezialangebot machen sollten: zwei Dollar für einen Hühnchenschenkel und dazu ein Porträt. »Sie ist gut genug dafür«, sagte Doris, während sie mir zuschaute, wie ich Barbra Streisands krauses Haar zeichnete. »Und diese Normalos können sich so wenigstens für einen Tag wie ein Prominenter fühlen.«
    Mir kam die ganze Sache ein wenig komisch vor. Ich fühlte mich wie im Zirkus, aber das Angebot kam überwältigend gut an, und ich bekam weitaus mehr Trinkgeld fürs Zeichnen als fürs Kellnern. Ich zeichnete die meisten Stammgäste schon am ersten Tag, und es war Lionels Idee, die ersten Bilder umsonst zu machen und sie zu Werbezwecken zu den anderen zu hängen. Dabei hätte ich die meisten Gäste auch zeichnen können, ohne dass sie für mich Modell sitzen mussten. Schließlich hatte ich sie schon lange genug beobachtet und kannte auch ihre Geschichten – zumindest in Umrissen –, und während meiner Freizeit gestaltete ich sie in der Fantasie aus.
    Da war zum Beispiel Rose, die blonde Frau, die jeden Freitag zum Mittagessen kam, nachdem sie beim Friseur gewesen war. Sie trug teure Leinenkostüme, klassische Schuhe und einen mit Diamanten besetzten Ehering. Sie hatte eine Gucci-Handtasche, und sie ordnete ihr Geld: Einer, Fünfer, Zehner und Zwanziger. Einmal brachte sie einen fast kahlköpfigen Mann mit, der die gesamte Mahlzeit hindurch ihre Hand hielt und Italienisch mit ihr sprach. Ich überlegte mir, dass es ihr geheimer Liebhaber sein könnte, denn ihr Bilderbuchleben war einfach zu perfekt.
    Marco wiederum war ein blinder Student an der Kennedy School of Government. Selbst an den heißesten Julitagen kam er in einem langen schwarzen Mantel. Er hatte sich den Kopf kahl rasiert und ein Tuch um die Stirn gebunden, und er spielte Spiele mit uns. Welche Farbe ist das? , fragte er zum Beispiel. Gib mir einen Tipp. Und ich sagte dann so was wie McCarthy , und er lachte und antwortete Rot . Er kam immer spät am Abend und rauchte eine Zigarette nach der anderen, bis sich über ihm eine dichte graue Rauchwolke unter der Decke gebildet hatte.
    Doch der Gast, den ich am aufmerksamsten beobachtete, war Nicholas. Lionel hatte mir seinen Namen verraten. Nicholas studierte Medizin, was auch der Grund dafür war, dass er zu so unmöglichen Zeiten erschien,
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