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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel
Autoren: Jan Stressenreuter
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noch erträglich. Unten im Tal liegt die Luft wie eine Dunstglocke über den Häusern. Nur die Kinder sind unbeeindruckt von der Hitzewelle. Badeseen und Springbrunnen sind erfüllt mit ausgelassenem Geschrei und Gelächter, die Eisdielen machen das Geschäft ihres Lebens.
    Der alte Mann schließt die Haustür hinter sich und schaut mit einem unwirschen Blick in den wolkenlosen Himmel, als fühlte er sich durch die Wärme persönlich angegriffen. Dann setzt er einen Hut auf seinen mit Altersflecken übersäten, kahlen Schädel und macht sich mit langsamen, vorsichtigen Schritten und leicht gebeugtem Gang auf den Weg. An den Blumenbeeten, die er neben dem Haus angelegt hat, bleibt er für einen Moment stehen und schüttelt missmutig den Kopf. Die Erde ist hart wie Beton; die Dahlien und die Gerbera lassen schon wieder die Köpfe hängen, obwohl er sie erst am Morgen gewässert hat. Selbst der Efeu, der die Dachrinne emporklettert, sieht grau und ausgelaugt aus. Der alte Mann stochert einen Moment unentschlossen mit seinem Stock im Boden herum, versucht ihn aufzulockern und gibt dann auf.
    „Sinnlos“, schnauft er verärgert, „nächstes Jahr werde ich Plastikblumen in die Erde stecken.“
    Er schlurft auf den Bürgersteig und biegt nach links ab, wo sich ein paar Straßen entfernt hinter dem kleinen Park ein Supermarkt befindet, den er jeden Tag nach dem Mittagessen besucht. Viel braucht der alte Mann nicht, manchmal läuft er die Strecke nur wegen einem halben Liter Milch oder zwei Äpfeln, aber dieser tägliche Gang gehört zu seiner Routine, er ist eine Art Verbindung zur Außenwelt, die er nicht abreißen lassen möchte.
    Den Rest des Tages verbringt er normalerweise im Haus, streichelt den namenlosen, einäugigen Kater, der ihm vor einem halben Jahr zugelaufen ist, liest mit zittrigen Händen die Zeitung oder er sitzt am Fenster und beobachtet, was auf der Straße vor sich geht. Abends schaut er meist fern, lässt sich berieseln, hin und wieder telefoniert er mit dem einen oder anderen Freund, der noch übrig geblieben ist. Alle paar Wochen bekommt er Besuch von seiner Nichte oder seinem Neffen. Sie wechseln sich ab, bringen Kuchen und manchmal sogar ihre Kinder mit, schauen nach dem Rechten. Die Kinder nennen ihn Opa, obwohl er gar nicht ihr richtiger Großvater ist. Für sie ist dieser Ort in den Bergen ein kleines Stück Ferien, ein Abenteuerspielplatz, sie sind in Gegenden aufgewachsen, wo schon eine kleine Bodenerhebung als Hügel bezeichnet wird.
    Der alte Mann freut sich über die Abwechslung, auch wenn er weiß, dass es Pflichtbesuche sind. Es stört ihn zwar, dass seine Nichte verstohlen überprüft, ob er regelmäßig wäscht und das Haus in Schuss hält, und er findet es beschämend, dass sein Neffe die Regelung seiner Finanzen übernommen hat, aber wenn er ehrlich ist, muss er zugeben, dass er mit dem bürokratischen Aufwand seiner Geldangelegenheiten überfordert ist. Er ist ein Relikt, er kann mit der heutigen Welt nicht mehr Schritt halten, er hat seine Zeit überlebt. Manchmal fühlt er sich genauso alt, wie sein Spiegelbild bei der morgendlichen Rasur aussieht, dann tut ihm sein Knie weh oder er hat wieder Brustschmerzen, aber meistens kann er gar nicht glauben, dass es wirklich er selber ist, der sich hinter diesem fremden Gesicht aus Falten, Leberflecken und Furchen verbirgt, dass die trüben und rotgeäderten Augen wirklich seine eigenen sind. Er kann sich noch immer daran erinnern, wie er mit zwanzig, dreißig und vierzig Jahren ausgesehen hat, in seiner Wahrnehmung ist er eigentlich nie alt geworden und es fühlt sich merkwürdig an, in dem Körper eines Greises gefangen zu sein.
    Der alte Mann läuft langsam den Bürgersteig entlang, dankbar über jeden Zentimeter Schatten, der von den Büschen der angrenzenden Vorgärten auf den Gehweg geworfen wird. Alle hundert Meter gönnt er sich eine kleine Verschnaufpause, lehnt sich auf seinen Stock und wartet, bis sich sein rasselnder Atem beruhigt hat.
    Vor einigen Wochen hat seine Nichte zum ersten Mal das Wort „Seniorenheim“ in den Mund genommen, ganz nebenbei, als sie die Staubsaugerschnur aufgerollt hat, aber er hat rigoros abgeblockt, hat erklärt, dass er dieses Haus, diese Wohnung nur verlässt, wenn er hinausgetragen wird, und zwar mit den Füßen zuerst. Er kann hier nicht weg, die Hälfte seines Lebens hat er hier verbracht. Wie soll er all die Erinnerungen mitnehmen, die sich in einer so langen Zeit angesammelt haben? Ihm darf
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