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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel
Autoren: Jan Stressenreuter
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plötzlich seine Arme und Beine hin und her, schaufelt den frisch gefallenen Schnee um sich herum zur Seite.
    „Was tust du da?“ frage ich.
    „Ich mache einen Schneeengel, Dummkopf!“ sagt Rafael.
    „Das ist kindisch!“ erwidere ich.
    „Quatsch! Komm, leg dich neben mich, das macht Spaß!“
    Ich lasse mich zögernd neben Rafael nieder, bewege Arme und Beine wie eine Marionette auf und ab, bis die frei geschaufelten Stellen im Schnee vage an einen Engel erinnern. Gegen meinen Willen fange ich an zu lachen. Rafael hat Recht. Es macht Spaß.
    Urplötzlich versiegt unser Gelächter. Wir schweigen und schauen erneut in den blauen Himmel. Keine einzige Wolke ist mehr zu sehen, nur die Sonne und ein wenig weißer Rauch, der aus dem Kamin von Finns Haus aufsteigt und sich in der Luft kräuselt. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit spüre ich so etwas wie Glück in mir aufsteigen. Es ist ein fast vergessenes Gefühl, das mich von innen wärmt und mich unentwegt lächeln lässt. Ich wünschte, ich könnte diesen Moment festhalten, für alle Ewigkeit, zumindest aber für den Rest meines Lebens.
    Rafael dreht mir den Kopf zu und legt seine Hand in meine. Ich schlucke und weiß sofort, was er mir jetzt sagen will. Auch wenn sich an diesem Tag so viele Dinge ereignet haben – ich habe diesen Moment nicht vergessen, ich habe mich heimlich davor gefürchtet, habe das Wissen um meine Angst verdrängt und versucht, nicht daran zu denken –, aber jetzt ist es soweit.
    „Ich muss gehen“, sagt Rafael und sieht mich mit seinen dunklen Augen an. Ein paar Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn und glitzern feucht im Sonnenlicht.
    „Ich wünschte, du könntest bleiben – nur noch ein paar Stunden“, bettele ich.
    „Meine Zeit ist abgelaufen. Mein Auftrag ist erfüllt.“
    „Ja“, erwidere ich leise, „ich weiß.“
    „Du brauchst meine Hilfe nicht mehr“, versucht Rafael mich aufzumuntern. „Ihr werdet zurechtkommen, du und Finn.“
    „Wie kannst du dir so sicher sein?“ frage ich zweifelnd. „Wir haben uns angeschrien und uns geprügelt heute Morgen!“
    Rafael lächelt. „Ihr habt einen Anfang gemacht“, spricht er mir Mut zu.
    „Aber was ist mit deiner Verbannung? Wann ist sie aufgehoben worden? Woher weißt du, dass du wieder zurück darfst?“ Ich angele nach Strohhalmen, in der Hoffnung, das Unausweichliche verhindern zu können.
    „Hast du diesen Unfug tatsächlich geglaubt? Du solltest wirklich ein bisschen bibelfester werden, mein Lieber!“ grinst Rafael. „Der einzige Engel, der jemals aus dem Himmel verbannt worden ist, war Luzifer.“
    „Du hast mich reingelegt!“ rufe ich und vergesse für einen Augenblick, wie traurig ich eigentlich bin.
    „Ein bisschen“, sagt Rafael. „Nur ein bisschen.“
    „Ich werde dich nicht mehr wiedersehen, oder?“ Ein dicker Kloß schnürt mir die Kehle zu.
    „Wer weiß“, erwidert der Engel. „Aber ich werde dir zuhören, wenn du mit mir sprichst. Jederzeit und überall.“
    Ich nicke. Es ist ein beruhigender Gedanke.
    Rafael lächelt mir ein letztes Mal zu und dann entdecke ich wieder dieses helle Licht. Es scheint von nirgendwoher zu kommen und beginnt doch in seiner Brust zu leuchten. Es strömt durch seinen ganzen Körper, bis er vollkommen eingehüllt wird davon. Immer heller und strahlender wird es, bis es sogar den Sonnenschein um uns herum übertrifft. Geblendet muss ich für einen Moment die Augen schließen, und als ich sie wieder öffne, ist das Licht erloschen und Rafael verschwunden. Nur dort, wo er gelegen hat, sind deutlich die Umrisse eines Schneeengels zu erkennen.
    Meines Engels.
    Die Haustür öffnet sich und meine Schwester kommt auf mich zu.
    „Wo ist Rafael?“ fragt sie, als sie mich allein im Schnee liegen sieht.
    „Weg“, erwidere ich traurig. „Er ist weg.“
    Sabine versteht sofort und hilft mir schweigend hoch. Fast zärtlich klopft sie mir den Schnee von den Sachen. Dann gehen wir zusammen ins Haus zurück.
    „Himmelfahrt am Heiligabend“, sagt meine Schwester und boxt mich aufmunternd in die Seite. „Was für ein Chaot!“

Am Ende …
    … ist es wieder Sommer und es ist heiß. Die Hitze liegt schon seit Wochen über dem kleinen Städtchen, lässt die Rasenflächen vertrocknen und die Blätter der Bäume den Herbst erahnen. Die Auspuffgase stauen sich in den Straßen und erschweren das Atmen und die Menschen zollen dem Wetter mit müden und angestrengten Bewegungen ihren Tribut. Dabei ist hier in den Bergen das Klima
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