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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel
Autoren: Jan Stressenreuter
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anscheinend tatsächlich passiert und der andere nicht? Habe ich wirklich alles nur geträumt oder hat Rafael mich ein Stück Realität sehen lassen, während ich geschlafen habe? Je länger ich darüber nachdenke, was wirklich geschehen ist, desto verwirrter werde ich. Nur eines verstehe ich endlich: Finn hat Recht. Meine Hoffnung, wir könnten einfach da weitermachen, wo wir aufgehört haben, und so tun, als wäre nichts geschehen, war naiv. Unsere Verletzungen sind real, wir beide haben Narben davongetragen, die noch immer schmerzen. Wir brauchen Zeit, um uns aneinander heranzutasten, wieder Vertrauen zu fassen. Aber ich begreife auch, dass wir nur dann eine Chance haben, wenn wir die Vergangenheit hinter uns lassen. Ansonsten wird das, was gewesen ist, immer einen Schatten über das werfen, was sein könnte. Wenn wir beide dasselbe wollen, nämlich uns, Finn und Marco, dann müssen wir voneinander lernen und uns gegenseitig helfen.
    Entschlossen lege ich ein paar Holzscheite in den Kamin, öffne die Abzugsluke und zünde den Stapel Holz mit einigen von Finns Briefentwürfen an. Schon nach wenigen Minuten lodern die Flammen und wärmen die Luft in dem kalten Raum.
    Die Tür quietscht und Finn kommt herein. Er hat geduscht, sich die Haare gewaschen und den Bart abgenommen. Fast sieht er wieder aus wie der Finn, den ich kenne. Nur in seinen Augen kann ich noch etwas von der Traurigkeit erkennen, mit der er in den letzten Wochen gerungen hat und für die ich verantwortlich bin. „Ich habe noch nie gut aufschreiben können, was ich empfinde“, sagt er und deutet auf seine Versuche, sich bei mir zu entschuldigen. „Deshalb habe ich keinen dieser Briefe abgeschickt.“
    „Ich habe davon geträumt“, sage ich, „ich habe geträumt, dass du mir schreiben wolltest.“ Ich schlucke und versuche, meinen nächsten Satz so neutral und emotionslos wie möglich zu formulieren, aber ohne Erfolg. „Ich … ich habe auch geträumt, dass du dich umbringst. Hast du …?“ Ich verstumme und schaue zu Boden. Ich habe Angst vor der Schuld, die Finn mir mit einem „Ja“ aufbürden würde.
    Aber Finn schüttelt abwehrend den Kopf und vermeidet eine klare Antwort. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Doch dann spüre ich, wie die Finger seiner Hand die Finger meiner Hand suchen, stockend und ängstlich. Zusammen schauen wir schweigend in das Feuer des Kamins. Immerhin, es ist ein Anfang.
    Die Sonne des frühen Nachmittags lockt uns schließlich nach draußen, wo meine Schwester, Rafael und mein Neffe sich schon eine geraume Weile rund um den Schneemann eine ungestüme Schneeballschlacht liefern. Alle drei haben vor Kälte rot glühende Gesichter. Adolf tollt aufgeregt und mit hechelnder Zunge den Geschossen hinterher, in der unerfüllbaren Hoffnung, er könnte das weiße Nass apportieren. Meine Mutter steht neben der Haustür, trägt Annika auf dem Arm und sieht dem Treiben lachend zu. Von Kopf bis Fuß eingewickelt in Decken, Anorak, Wollmütze und Fäustlinge sieht meine Nichte aus wie eine zu klein geratene Mumie.
    Ich habe meinen Fuß gerade vor die Tür gesetzt, als aus Rafaels Richtung ein Schneeball auf mich zufliegt und mich am Arm trifft. Finn prustet amüsiert auf und ich greife zum Boden und reibe sein Gesicht mit einer Ladung Schnee ein.
    „Was gibt es da zu lachen?“ frage ich feixend.
    Er protestiert lautstark und versucht, sich von mir loszureißen. Als er sein Gesicht vom Schnee befreit hat, grinsen wir uns an und stürzen uns in den tobenden Kampf. Schon bald haben sich zwei Fronten gebildet. Finn und ich auf der einen Seite, Sabine, Rafael und Simon auf der anderen. Hektisch formen wir mit frierenden Fingern den Schnee zu Bällen, zielen wahllos auf unsere Gegner und jubeln, wenn wir einen Volltreffer landen. Es fühlt sich gut an, für einige Zeit wieder Kind zu sein.
    Nach einer Viertelstunde geben sich die anderen lachend geschlagen und Sabine und mein Neffe laufen ins Haus, um sich trockene Sachen anzuziehen. Finn folgt ihnen, er will meiner Schwester auf der Suche nach einem Fön behilflich sein, den er im Keller eingelagert hat. Auch meine Mutter geht hinein, Annika ist trotz des Krachs auf ihrem Arm eingeschlafen. Plötzlich sind nur noch Rafael und ich übrig.
    Rafael lässt sich atemlos in den Schnee fallen. Sein nackter Brustkorb hebt und senkt sich hektisch und ich wundere mich zum wiederholten Male, dass ihm die Kälte nichts anhaben kann. Er starrt lächelnd in den Himmel und bewegt dann
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