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Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann
Autoren: Minka Pradelski
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im Flur verantwortlich machen, sie werden mir sagen, dass ich ohne Mitgefühl sei für ältere Menschen, weil ich eine alte Frau, womöglich meine Mutter, erbarmungslos vor der Tür sitzen lasse. Ich reiße also die Tür weit auf und bitte sie einzutreten.
    »Sie sind doch keine Angestellte des Hotels, wer sind Sie?«
    »Ich gehöre zum Hotel wie die Sofas und die Stühle.«
    »Wie soll ich das verstehen?«
    »Ich warte jeden Tag.«
    »Ach, warten Sie auf den Messias?«
    »Die nächsten Tage werde ich nicht warten müssen.«
    »Ist er schon da, Ihr Messias?«
    »Wenn Sie einverstanden sind, setze ich mich zu Ihnen und vertreibe Ihnen die Zeit.«
    »Und was, wenn ich nicht will?«
    »Wir bleiben beide auf dem Zimmer, und ich werde Ihnen Geschichten aus meiner Schulzeit erzählen.«
    »Ich werde nicht zuhören.«
    »Hören Sie sich doch erst mal eine Geschichte aus Bendzin an.«
    »Mich interessiert Benzin nicht.«
    »Sie müssen den Namen anders aussprechen, weicher und mit viel mehr Gefühl. Die Buchstaben sollen ineinander verschmelzen, so als würde ein Schokoladenplätzchen auf Ihrer Zunge zergehen. Hier, nehmen Sie eines und probieren Sie es.«
    Sie hält mir tatsächlich ein selbstgebackenes, mit Schokolade gefülltes Plätzchen hin, ich schnuppere daran und stecke es mir in den Mund. Der Name ist gar nicht so schwer auszusprechen, denke ich. Ich hätte nie gedacht, dass ich einen polnischen Namen mit einem Plätzchen im Mund mit so einer Leichtigkeit aussprechen kann. Wenn ich doch nur süchtig nach Plätzchen wäre, nach Schokoladenriegeln, Sahnetörtchen, Eiscreme, Karamelbonbons, dann könnte ich womöglich jeden polnischen Namen aussprechen und könnte vielleicht auch andere slawische Sprachen im Nu erlernen, Kroatisch, Tschechisch, Russisch.
    »Wo liegt denn Ihre Stadt?«, frage ich zögernd.
    »In der Nähe von Katowice«, antwortet sie.
    Kattowitz in Oberschlesien, denke ich, ganz in der Nähe der Stadt meines Vaters.
    Sie soll mir nur nichts von ihrer Schule erzählen. Wie sage ich nur einer älteren Dame, einer Überlebenden, dass mich ihre ehemalige Schule nicht interessiert. Ich habe die Schule gehasst. Wenn sie anfängt von ihrer Schule zu erzählen, schnappe ich mir meinen Bikini, flüchte aus dem Zimmer, laufe hinunter an den Strand, lege mich neben die andere Silberberg, oder, noch besser, ich vertreibe sie. Selbst wenn Frau Kugelmann mich bittet oder festhält oder ans Bett fesselt und knebelt, von einer Schule will ich nichts hören. Frau Kugelmann rückt ganz nahe an mich heran, beugt sich zu mir, hält mich fest, als wolle sie mich beschwören. Sie flüstert mir ins Ohr:
    »Hören Sie gut zu, was ich Ihnen zu sagen habe, laufen Sie nicht weg. Ich muss erzählen, sonst stirbt meine Stadt.«
    »Und ich sterbe vor Langeweile.«
    »Warten Sie, nur einen Augenblick. Ich will Ihnen etwas Außergewöhnliches über unsere Schule erzählen, etwas, was Sie noch nie gehört haben. Alle unsere Lehrer und Schüler sind am Leben. Sie leben mitten unter uns, hier in Israel.«
    »Sie meinen, einige Lehrer und Schüler aus Ihrem Ort haben überlebt?«
    »Nein, ich meine, alle Lehrer und Schüler aus unserem Bendziner Fürstenberg-Gymnasium sind am Leben.«
    »Alle sollen überlebt haben in einem kleinen Ort in Polen? Das glaube ich Ihnen nicht.«
    »Es ist ein wenig anders, als Sie sich das vorstellen. Wir, die ehemaligen Schüler, sind es, die sie am Leben erhalten. Wir erzählen uns immer wieder Geschichten über sie. Wir pusten den Staub der Jahre weg, polieren, kneten und massieren, bis alles wieder geschmeidig und gelenkig wird, und plötzlich beginnen sie sich zu bewegen.«
    »Wie? Sie bewegen sich wirklich, sie werden lebendig?«
    »Nicht jeder kann sie sehen. Aber Sie können es.«
    »Ich?«
    »Ja, Sie!«
    »Woher weiß ich, dass es wahr ist, was Sie mir erzählen?«
    »Es gibt unendlich viele Wahrheiten über Bendzin, und jede noch so kleine Begebenheit birgt einen Berg voller Wahrheiten. Es hat sogar einmal in Bendzin an einem einzigen Tag hundertzwanzigtausend Wahrheiten gegeben. Jetzt sind Sie sicher neugierig und wollen wissen, warum.«
    »Ja«, sage ich, werde rot und fühle mich ertappt.
    »Hören Sie, das war so. Von unserer Hauptstraße aus, die mitten durch Bendzin führte, sah man als Erstes die Kirche, weil sie viel höher als die Synagoge war, wegen des Kirchturms, und bestimmt auch sehr viel früher erbaut wurde. Aber vor der Kirche stand die Synagoge, ein unübersehbarer, massiver
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