Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann
Autoren: Minka Pradelski
Vom Netzwerk:
flacher grauer Bau. Und wenn wir davon ausgehen, dass die Juden nur die Synagoge gesehen haben, die Christen nur ihre Kirche und die Freien die Unendlichkeit des Horizonts, dann gibt es sehr viele Wahrheiten über Bendzin. Vielleicht sogar vierzigtausend, so viele Wahrheiten wie es Einwohner gab. Und vielleicht hat es an einem Tag im Handumdrehen sogar hundertzwanzigtausend Wahrheiten gegeben, weil die Bendziner an diesem Tag mehrmals von der Kirche zur Synagoge blickten und dann noch in den Himmel. An einem Tag, der ganz gemächlich begann und sich dann in einen wütenden Tag hineingesteigert hat, an dem die wild gewordenen Christen plötzlich nur noch die verfluchte Synagoge gesehen und sie überfallen haben, und die Juden nur die verfluchte Kirche im Auge hatten, von der ihr ganzes Unglück ausging. Und nehmen wir einmal an, sogar die Freien hätten an diesem unruhigen Tag nicht mehr auf den Horizont geblickt, sondern nach unten, in die Endlichkeit, in irgendeines der vermaledeiten Gotteshäuser, wo man das arme verführte Volk mit dem Opium der Religion betäubt, um es gefügig zu machen. Wie viele Augenblicke der Wahrheit hat es an diesem Tag gegeben? Unzählige. Am Ende wird man behaupten können, es habe in Bendzin dreißigtausend Gotteshäuser und zehntausend Horizonte gegeben, und kein einziger Bendziner wird widersprechen.«
    Sie blickt mich an. Mir fehlen die Worte. Sie nutzt meine Verlegenheit aus und stellt sich rasch vor:
    »Ich heiße übrigens Bella«, sagt sie mit einem breiten gewinnenden Lächeln, »und an meiner Schule war ich wegen meiner langen blonden Zöpfe bekannt. Die meisten Schüler haben irgendwann einmal an meinen Zöpfen gezogen, weil keiner glauben wollte, dass so lange und so dicke Zöpfe echt sein könnten. Ich habe darauf geachtet, dass keiner ein zweites Mal an meinen Zöpfen zieht, ein jeder durfte sich nur einmal überzeugen.« Sie blickt mich kurz an, spürt mein Interesse und fährt fort.
    »Aus meiner ehemaligen Abiturklasse haben nur vier von uns die schrecklichen Zeiten in Polen überlebt: der schöne Adam, die stolze Polin und ich, ja, und meine Cousine Golda, die in Polen zurückgeblieben ist.
    Als der schöne Adam und die stolze Polin noch bei guter Gesundheit waren, trafen wir uns regelmäßig in Adams Wohnung, hier in Tel Aviv. Kaum hatte der schöne Adam mich an der Tür begrüßt, so bat er mich, an meinen Zöpfen ziehen zu dürfen, obwohl ich doch schon seit langem kurze und graue Haare habe. Meist gesellte sich die stolze Polin dazu, und so standen sie zu zweit um mich herum, griffen in die Luft und zogen mit einem kräftigen Ruck genau an der Stelle, wo sich einst der dickste Teil meiner Zöpfe befand. Zogen sie allzu heftig, dann schrie ich auf vor Schmerz, aber das geschah eher selten.
    Wenn wir uns auf Adams Sofa zum Reden niederließen, dann geschah etwas Merkwürdiges: Die Tür der Wohnung schloss sich von unsichtbarer Hand, und das Zimmer füllte sich mit den vertrauten Gestalten.
    Wir hören plötzlich das Hämmern der Schuster, sehen die Stofffetzen der Schneider, haben den Geschmack der leckeren Speisen, die auf der Straße feilgeboten werden, im Mund, sind halb betäubt von den wohlbekannten Gerüchen und dem polnisch-jiddischen Sprachengewirr. Wir sind eingekesselt von Metzgern und Bäckern, Fabrikanten, Lastenträgern und Schnorrern. Und wenn einer von uns hustet, holen wir in Gedanken die bittere Medizin beim Apotheker Gablonski und gehen noch schnell um die Ecke beim Barbier Lachmann vorbei, um nebenan, beim Potok, ein paar Süßigkeiten zu kaufen. Manchmal ist unser Zimmer bis zum Bersten gefüllt, Schülerinnen mit dunkelblauen Blusen und roten Hutbändern drängeln sich in den Ecken, Burschen mit Schlittschuhen oder nassen Badeanzügen stürmen herein. Keitusch, der kleine Pudel von Marysia Teitelbaum, dreht sich im Kreis und weiß vor Aufregung nicht, wen er zuerst begrüßen soll. Frau Kleinowa, unsere nervöse Polnischlehrerin, ist von den Lehrern als Erste da, dann kommt unsere schöne Lateinlehrerin Fanny Sternenlicht in ihren verführerisch kurzen Stiefelchen. Wie sie es liebt, ihre jungen Schüler zu verwirren. Und da ist auch schon unser hässlicher Mathematiklehrer Professor Rado, mit seinem festen, kurzen, zielbewussten Tritt, und auch der hagere christliche Hausmeister Kowalski mit Bolek, seinem Sohn. Ja, und da sehe ich schon die Organisationen, die Zionisten und die Bundisten und wie sie alle heißen, und endlich sind auch alle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher