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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten
Autoren: Julian Barnes
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mir sehr leid, was ich über deine Mutter gehört habe.«
    »Ja.«
    »Kann ich irgendwas tun?«
    »Von wem hast du es gehört?«
    »Jake.«
    »Du bist doch nicht etwa mit Jake zusammen?«
    »Ich bin nicht in dem Sinne mit Jake zusammen, falls du danach fragst.« Aber sie sagte das in einem so munteren Ton, als finde sie es selbst jetzt noch erregend, wenn sie eine Anwandlung von Eifersucht auslösen könne.
    »Nein, ich frage dich nicht danach.«
    »Hast du aber gerade.«
    Immer noch die Alte, dachte ich. »Danke für dein Mitgefühl«, sagte ich so förmlich ich konnte. »Nein, du kannst gar nichts tun, und nein, sie würde sich nicht über einen Besuch freuen.«
    »Soll mir recht sein.«
    Es war ein heißer Sommer, als Mum starb, und Dad trug wieder seine kurzärmeligen Hemden. Er wusch sie immer mit der Hand und mühte sich dann mit dem Dampfbügeleisen ab. Als ich eines Abends sah, dass er erschöpft war und vergeblich versuchte, eine Hemdpasse über das spitze Ende des Bügelbretts zu ziehen, sagte ich:
    »Du könntest sie doch in die Wäscherei geben.«
    Er sah mich nicht an, zerrte nur weiter an dem feuchten Hemd herum.
    »Ich bin mir durchaus bewusst«, antwortete er schließlich, »dass es solche Einrichtungen gibt.« Bei meinem Vater hatte sanfter Sarkasmus dieselbe Wirkung wie bei anderenein Wutanfall.
    »Entschuldige, Dad.«
    Dann hielt er doch inne und schaute mich an. »Es ist sehr wichtig«, sagte er, »dass sie sieht, ich bin immer noch sauber und ordentlich. Wenn ich jetzt schmuddelig herumliefe, würde sie das merken, und dann würde sie denken, ich käme nicht zurecht. Sie darf aber nicht denken, ich käme nicht zurecht. Weil sie das aufregen würde.«
    »Ja, Dad.« Ich fühlte mich zurechtgewiesen; ich fühlte mich, ausnahmsweise, wie ein Kind.
    Später setzte er sich zu mir. Ich trank ein Bier, er einen vorsichtigen Whisky. Mum war seit drei Tagen im Hospiz. An dem Abend hatte sie einen ruhigen Eindruck gemacht und uns mit einer bloßen seitwärts gerichteten Augenbewegung fortgeschickt.
    »Übrigens«, sagte er und stellte sein Glas auf einem Untersatz ab, »es tut mir leid, dass Mutter Janice nicht leiden konnte.« Wir hörten beide das Tempus des Verbs. »Leiden kann«, verbesserte er, viel zu spät, das Ende seines Satzes.
    »Das wusste ich gar nicht.«
    »Aha.« Mein Vater verstummte. »Tut mir leid. Heutzutage ...« Er brauchte nicht weiterzusprechen.
    »Warum nicht?«
    Sein Mund verspannte sich, wie er sich – so stelle ich mir vor – verspannte, wenn ein Mandant ihm etwas Dummes erzählte, etwas wie: In Wirklichkeit war ich doch am Tatort.
    »Na komm, Dad. War es wegen dieser Geschichte mit der Autowerkstatt? Diese Reifenpanne.«
    »Welche Reifenpanne?«
    Also hatte sie ihm davon nichts erzählt.
    »Ich konnte Janice immer ganz gut leiden. Sie hatte ... Esprit.«
    »Ja,Dad. Komm zur Sache.«
    »Deine Mutter hat gesagt, für sie sei Janice eins dieser Mädchen, die wissen, wie man anderen Schuldgefühle macht.«
    »Ja, das war ihre besondere Spezialität.«
    »Sie hat sich immer bei deiner Mutter beklagt, wie schwierig mit dir auszukommen sei – und hat damit irgendwie zu verstehen gegeben, dass deine Mutter daran schuld sei.«
    »Sie hätte ihr dankbar sein sollen. Mit mir wäre noch sehr viel schlechter auszukommen gewesen, wenn Mum mich nicht so geliebt hätte.« Wieder ein Fehler, vor lauter Müdigkeit. »Ihr beide, meine ich.«
    Mein Vater nahm mir die Korrektur nicht übel. Er nippte an seinem Drink.
    »Und was noch, Dad?«
    »Ist das nicht genug?«
    »Ich hab einfach das Gefühl, du verschweigst mir etwas.«
    Mein Vater lächelte. »Ja, aus dir hätte ein Jurist werden können. Also, das war schon am Ende von – von eurer ... als Janice so ganz anders geworden war.«
    »Raus damit, dann können wir gemeinsam darüber lachen.«
    »Sie hat zu deiner Mutter gesagt, sie finde dich ziemlich psychopathisch.«
    Womöglich habe ich gelächelt, aber gelacht habe ich nicht.
    Im Krankenhaus und im Hospiz kamen wir mit so vielen verschiedenen Leuten zusammen, dass ich nicht mehr weiß, wer uns erzählt hat, beim Sterben, wenn das gesamte System dichtmacht, seien die letzten noch funktionierendenSinne im Allgemeinen Gehör und Geruch. Meine Mutter war inzwischen praktisch bewegungsunfähig und musste alle vier Stunden umgedreht werden. Sie hatte seit einer Woche nicht gesprochen, und ihre Augen waren immer geschlossen. Sie hatte deutlich gemacht, dass sie, wenn ihr Schluckreflex schwächer
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