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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten
Autoren: Julian Barnes
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wurde, nicht künstlich ernährt werden wollte. Der sterbende Körper kann lange genug ohne diesen Nährstoffbrei durchhalten, den sie so gern in ihn hineinpumpen.
    Mein Vater hat mir erzählt, er sei in den Supermarkt gegangen und habe verschiedene Päckchen von frischen Kräutern gekauft. Im Hospiz habe er die Vorhänge um das Bett zugezogen. Er wollte nicht, dass andere diesen intimen Moment sahen. Er schämte sich nicht – mein Vater schämte sich nie für seine Liebe zu seiner Frau –, er wollte einfach allein sein. Allein mit ihr.
    Ich stelle mir vor, wie sie dort zusammen sind, mein Vater sitzt auf dem Bett, gibt meiner Mutter einen Kuss, ohne zu wissen, ob sie den spürt, er spricht zu ihr, ohne zu wissen, ob sie ihn hört, und ob sie, selbst wenn sie ihn hört, seine Worte verstehen kann. Er hatte keine Möglichkeit, das zu erkennen, sie keine Möglichkeit, es ihm zu sagen.
    Ich stelle mir vor, dass er sich Sorgen machte wegen des Geräuschs beim Aufreißen der Plastiksäckchen und was sie dabei denken könnte. Ich stelle mir vor, dass er das Problem so löste, dass er eine Schere mitgebracht hatte, um die Päckchen aufzuschneiden. Ich stelle mir vor, wie er ihr erklärt, er habe ihr ein paar Kräuter zum Riechen mitgebracht. Ich stelle mir vor, wie er Basilikum unter ihren Nasenlöchern zu Röllchen verreibt. Ich stelle mir vor, wie er Thymian zwischen Daumen und Zeigefinger zerbröselt, dann Rosmarin. Ich stelle mir vor, wie er die Namen aufsagt und glaubt, dass sie die Kräuter riechen kann, und hofft,dass sie ihr Freude bereiten, sie an die Welt und ihr Entzücken daran erinnern – vielleicht sogar an einen Tag an einem ausländischen Berghang oder buschbestandenen Hügel, wo ihre Schuhe den Duft von wildem Thymian aufsteigen ließen. Ich stelle mir vor, wie er hofft, dass ihr die Gerüche nicht wie ein furchtbarer Hohn erscheinen und sie nicht an die Sonne erinnern, die sie nicht mehr sehen, an Gärten, in denen sie nicht mehr umherlaufen, an würziges Essen, das sie nicht mehr genießen kann.
    Ich hoffe, er hat sich diese letzten Möglichkeiten nicht vorgestellt; ich hoffe, er war überzeugt, dass ihr in ihren letzten Tagen nur die besten, glücklichsten Gedanken vergönnt waren.
    Einen Monat nach dem Tod meiner Mutter hatte mein Vater seinen letzten Termin bei dem HNO – Spezialisten.
    »Er hat gesagt, er könne mich operieren, aber er könne keine größeren Erfolgsaussichten versprechen als 60/40. Ich habe ihm erklärt, dass ich keine Operation will. Er hat gesagt, es widerstrebe ihm, in meinem Fall aufzugeben, zumal meine Anosmie nur partiell sei. Er denke, mein Geruchssinn warte nur darauf, wieder geweckt zu werden.«
    »Wie?«
    »Weiter wie bisher. Antibiotika, Nasenspray. Leicht veränderte Rezeptur. Ich hab gesagt danke, aber nein danke.«
    »Klar.« Mehr sagte ich nicht. Es war seine eigene Entscheidung.
    »Weißt du, wenn deine Mutter ...«
    »Ist schon in Ordnung, Dad.«
    »Nein, es ist nicht in Ordnung. Wenn sie ...«
    Ich schaute ihn an, schaute die Tränen an, die sich hinter seinen Brillengläsern angestaut hatten und dann freigelassen wurden und ihm über die Wangen liefen bis zum Kinn. Erließ sie laufen; er war daran gewöhnt; sie machten ihm nichts aus. Mir auch nicht.
    Er fing noch einmal an. »Wenn sie ... Dann will ich nicht ...«
    »Natürlich, Dad.«
    »Ich glaube, es hilft, irgendwie.«
    »Natürlich, Dad.«
    Er hob die Brille aus den Hautfalten, in denen sie steckte, und die letzten Tränen rannen ihm an der Nase herunter. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen.
    »Weißt du, was dieser beschissene Spezialist zu mir gesagt hat, als ich ihm erklärt habe, dass ich keine Operation will?«
    »Nein, Dad.«
    »Er hat eine Weile dagesessen und nachgedacht, und dann hat er gesagt: ›Haben Sie einen Rauchmelder?‹ Ich sagte Nein. Er sagte: ›Vielleicht können Sie sich einen vom Amt bezahlen lassen. Aus dem Behindertenetat.‹ Ich sagte, ich wisse nicht recht. Dann sagte er weiter: ›Aber ich würde wohl zu einem erstklassigen Modell raten, und dafür wollen sie womöglich nicht aufkommen.‹«
    »Klingt alles ziemlich surreal.«
    »War es auch. Dann sagte er, die Vorstellung gefalle ihm nicht, dass ich daliege und schlafe und erst merke, dass das Haus brennt, wenn ich von der Hitze aufwache.«
    »Hast du ihm eine reingehauen, Dad?«
    »Nein, mein Sohn. Ich bin aufgestanden, hab ihm die Hand gegeben und gesagt: ›Das wäre wohl auch eine Lösung.‹«
    Ich
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